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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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ihn jedoch seltsam beruhigend, deshalb blieb er eine Weile und schlenderte, in Tagträume versunken, inmitten der Toten umher. Es gab vermutlich schlimmere Orte, um die Ewigkeit zu verbringen, und er dachte an die Millionen Menschen, die, in Stücke gerissen, unter der eisigen Erde Frankreichs lagen.
    In Zeiten von Krieg und Krankheit war es unvermeidlich, über das Ende nachzudenken, doch er konnte sich kein Leben nach dem Tode vorstellen. In Frankreich hatte er die Nächte oft neben den Leichen von Soldaten verbracht und immer unter Platzangst gelitten, als läge in ihrem Schweigen eine Forderung, die er nicht erfüllen konnte. Er konnte sich an einen Mann erinnern, der auf einer Rolle Stacheldraht zusammengesunken war, die Zähne entblößt, sein Lächeln matt schimmernd. Nichts spüren, nichts wissen, nichts sein, nichts haben. Kein Wunder, dass der Mensch den Himmel erdacht hatte.
    Sarahs Grab lag unter einem hoch aufragenden Eukalyptusbaum. Eine Fliege schwirrte vor Quinns Gesicht herum. Er blieb stehen und rang im trägen Nachmittag nach Atem. Er starrte den Grabstein an und hatte das Gefühl, weit weg von allem zu sein, als wäre die übrige Welt oder er selbst davongeweht worden. Er griff nach dem Ast eines Baumes, wie man es vielleicht nach der Reling eines stampfenden Schiffes tun würde, bis das Gefühl vorüberging. Dann wedelte er die verdammte Fliege weg, doch sofort war eine andere da. Sein gewaltiger Schmerz war genau der Grund, warum er zuvor noch nie hergekommen war. Er hatte gewusst, dass es so sein würde. Seine Schwester. Seine arme, ermordete Schwester. Wenn sie doch nur die Plätze tauschen könnten – und sei es nur für jeden zweiten Tag, wie es Castor und Pollux, den Zwillingen aus der griechischen Sagenwelt, gewährt worden war.
    Die Inschrift auf dem Grabstein war verwittert, aber gut lesbar.
    Sarah Louise Walker
    1897–1909
    Zu früh von uns gegangen
    Selig sind, die reines Herzens sind
    Er kauerte sich neben das Grab und blickte blinzelnd in die Landschaft hinaus. Es war hier geradezu schön. Er ließ sich die Worte seiner Mutter durch den Kopf gehen, immer wieder, bis sie wie eine Beschwörung klangen. Ein ferner Schwarm Vögel fiel ihm ins Auge, und als sie sich in die Kurve legten, kam es ihm einen Augenblick so vor, als würden sie gar nicht fliegen, sondern am blauen Himmel hängen. Die ganze Welt schien stillzustehen. Ich würde alles tun, um Sarah zurückzubekommen. Ich würde alles tun, um Sarah zurückzubekommen. Ich würde alles tun, um Sarah zurückzubekommen . Ein leichter Wind zerzauste sein Haar. Die Welt drehte sich weiter. Die Sinnestäuschung verblasste.
    Er rupfte einen trockenen Grashalm ab und kaute darauf. Er war zart und süß – vielleicht hatte sich das Gras von den Überresten seiner Schwester genährt, waren die wuchernden Wurzeln aus ihrem ausgehöhlten Brustkorb gesprossen, von da, wo einmal ihr Herz geschlagen hatte. Er legte die Hand auf die ausgedörrte Erde, als wollte er Sarah seiner Entschlossenheit zu helfen versichern. Sobald er wusste, was es war, würde er tun, was sie von ihm verlangte.
    Letztes Jahr hatte Quinn in London Leute kennengelernt, die glaubten, dass die Toten mit den Lebenden in Verbindung treten konnten, doch er dachte, dass das wenig Zweck hatte, wenn die Lebenden den Verstorbenen nichts anbieten konnten. Nicht dass er wüsste, was er Sarah sagen könnte, wenn er je die Gelegenheit dazu hätte, mit ihr zu sprechen. Es tut mir leid reichte nicht mehr aus. Es tut mir leid, dass ich zu spät kam .
    Von ihrer Geburt an hatte seine Schwester ihn in Erstaunen versetzt. Wie ihre Mutter war sie berühmt gewesen für ihre Schönheit, ihren Verstand und ihre Überschwänglichkeit. Ihre Anwesenheit verwandelte jedes Zimmer, das sie betrat, als könnte sie die Luft elektrisch aufladen. William hatte sie eine Zeit lang weisgemacht, dass sie fliegen könne, aber lieber zu Fuß gehe, damit die Leute nichts von ihren Kräften erführen. Sie versuchte, ihren Vater mit seiner eigenen Taschenuhr zu hypnotisieren. Mit einem seltsamen Lied, das sie in der Kehle trällerte, konnte sie Zikaden anlocken. Seine Mutter hatte recht: Sarah hatte ihn immer herumkommandiert, konnte bei ihm alles erreichen. Einmal hatte sie verlangt, dass er sie einen ganzen Tag lang in einem roten hölzernen Handwagen durch die Gegend zog, nachdem er eine Wette um irgendetwas Unwichtiges verloren hatte, an das er sich nicht mal mehr erinnern konnte. Jeder ältere Bruder hätte

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