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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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während sie auf die Bombardierung oder das Knallen der Gewehrschüsse warteten. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Er dachte, dass es kaum ein Leid gab, das er nicht kennengelernt hatte, und während die anderen um ihr Leben flehten, ging es in seinen Gebeten um etwas viel Einfacheres – um seine Erlösung von allem.
    Er ging noch mal die nähere Umgebung seines Lagers ab, konnte aber nichts Neues entdecken, und als er sich sicher war, dass kein Mensch und kein Tier ihn beobachtete, ließ er sich zu Boden sinken und fiel in einen unruhigen Schlaf.
    6 Am nächsten Tag begab sich Quinn wieder zum Grundstück seines Vaters. Wie zuvor wartete er hinter den niedrigen Sträuchern, bis er überzeugt war, dass niemand da war, dann trabte er über den Hof und schlich ins Haus.
    Ihm fielen die kurzen, waagerechten Bleistiftstriche am Türpfosten zwischen Diele und Küche ins Auge. Sie dokumentierten die Größe der drei Kinder. An jedem ihrer Geburtstage hatte der Vater feierlich ein Lineal und einen Bleistift gezückt (Nicht auf die Zehenspitzen stellen! Die Schultern durchdrücken!), um zu messen, wie viel jeder von ihnen im vergangenen Jahr gewachsen war. Dann hatte Nathaniel, dessen Zunge immer zwischen den Lippen hervorschaute, wenn er sich konzentrierte, gesagt: Hmmm, diesmal nicht so gut. Du musst mehr Karotten essen . Und Mary hatte gelacht, die anderen beiden kreischenden Kinder an sich gezogen und ihnen mit angefeuchteter Hand das Haar zurechtgedrückt.
    Das schiefe Gekrakel seines Vaters war inzwischen fast unleserlich. Quinn bückte sich und ließ die Fingerspitzen über die Wörter gleiten. Hinter den simplen Formulierungen William 1900 12 J oder Sarah 1905 8 J verbargen sich ganze Geschichten von aufgeschürften Knien oder dem Tag, an dem sich William beim Holzhacken fast die Hand abgeschlagen hätte. Dass Sarah immer klein für ihr Alter gewesen war, weil sie mal den Winter über mit Fieber im Bett hatte liegen müssen. Dass sie sich einmal nicht hatte messen lassen, weil sie fand, dass sie für so was schon zu alt war. Wie William eine Nacht am Sutton Creek verbracht hatte, um auf den Bunyip zu warten, den Sarah dort angeblich gesehen hatte, und anschließend die schreckliche Kreatur so ausführlich beschrieb, dass Quinn – obwohl er wusste, dass die Geschichte erfunden war – ein paar Wochen lang einen großen Bogen um diese Gegend machte. Und dann die Messung seiner Schwester, der armen Sarah, an ihrem zwölften Geburtstag, die den letzten Eintrag für sie alle darstellte.
    Als Quinn das Zimmer seiner Mutter betrat, schlief sie, schreckte jedoch nach ein paar Minuten hoch. Ihre knochige Hand streckte sich ihm entgegen. Ihre Zunge schnalzte an ihrem trockenen Gaumen.
    »Quinn?«
    »Ja.«
    »Bist du es wirklich? Hier in diesem Zimmer? Ich dachte, ich hätte es nur geträumt – ich meine, ich habe tatsächlich von dir geträumt. Ganz oft. Was willst du hier?« Ihr Zweifel war herzzerreißend. »Ich habe den Leuten alles Mögliche erzählt. Geschichten. Wir dachten, du wärst tot. Ich glaubte, du wärst tot. Alles so plötzlich und schnell. Ich hab um dich getrauert, Quinn. Um dich und um deine Schwester.« Sie kramte in einem Bündel Papiere, das neben ihr lag, bis sie fand, was sie suchte, und ihm ein zerknittertes Blatt in die Hand drückte.
    »Was ist das?«
    »Das Telegramm, das sie geschickt haben. Vom Militär.«
    Quinn nahm das Telegramm nur widerwillig. Ihre Ungeduld, ihm die Nachricht von seinem eigenen Tod zu zeigen, war befremdlich. Er zögerte, bevor er das Blatt auseinanderfaltete. Die Wörter waren verblasst. Er überflog alles und entzifferte das Wort Bedauern, dann Sergeant Walker. Schmerzloser Tod. Pozières. Tapfer. Sein Land . Er faltete das Telegramm wieder zusammen und gab es ihr zurück.
    Wieder starrte sie ihn an, bis sie mit einer unbestimmten Handbewegung auf ihr eigenes Gesicht deutete. »Deine Verletzung. Du hast dich so verändert. Wahrscheinlich würde nur ich dich wiedererkennen.«
    »Du hast dich auch verändert.«
    Sie nickte, trank einen Schluck Wasser und gab ihm das Glas zurück. »Tja, es ist viel passiert. Außerdem glaube ich, dass ich im Sterben liege. Der Doktor weigert sich, es auszusprechen, und dein Vater glaubt, dass es bald ein Wundermittel gibt, du kennst ihn ja. Er studiert Zeitschriften und redet mit jedem, der etwas wissen könnte.« Sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Ich habe fast niemanden mehr. All meine Kinder habe ich verloren. Sarah natürlich.

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