Beraubt: Roman
aufzusetzen. »Mein Gott, aber du dürftest gar nicht hier sein. Hast du die Flagge denn nicht gesehen? Das Haus steht unter Quarantäne. Die gelbe Flagge?«
»Ich hab sie gesehen, aber ich musste herkommen. Ich musste dich sehen. Das Haus sieht verlassen aus.«
Wieder hustete sie. »Es kommt einem auch so vor. Hast du dich angesteckt?«
»Nein.«
»Noch nicht. Sogar dein Vater …«
»Was?«
»Er schläft im Stall. Setzt keinen Fuß ins Haus, damit er weiter in Sparrowhawk arbeiten kann. Bis die Quarantäne aufgehoben wird. Nur der Doktor kommt rein. Du solltest wenigstens eine dieser Masken tragen.« Sie starrte über seine Schulter hinweg die Wand an, als könnte der Mörder dort im Schatten stehen. »Gott wird ihn bestrafen, egal, wer es ist. Wer auch immer es getan hat. Gott wird sich darum kümmern. So ein Verbrechen kann nicht ungesühnt bleiben. Denk an Jesaja, Quinn. Seid getrost, fürchtet euch nicht! Sehet, euer Gott, der kommt zur Rache.«
Quinn nickte. Damit hatte er sich zu trösten versucht, wenn ihn die Gedanken an den Mann quälten, der seine Schwester umgebracht hatte.
»Ich werde versuchen, alles in Ordnung zu bringen, Mutter«, erwiderte er nach kurzem Schweigen.
»Etwas Krummes gerade biegen?«
»Wenn ich kann. Ich sage Vater, dass ich’s nicht war. Es ist noch nicht zu spät, unserer Sarah Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«
»Nein, Quinn. Dein Vater bringt dich um. Manches weigert er sich zu glauben, du kennst ihn ja. Er ist nicht mehr derselbe Mensch. Das Ganze hat ihn zugrunde gerichtet. Es hat uns alle zugrunde gerichtet. Zum Glück haben wir meinen Bruder. Robert war meine Rettung. Er war genauso am Boden zerstört wie alle anderen. Er hat sie geliebt, weißt du? Er macht sich Vorwürfe, weil er den Mörder nicht erwischt hat. Er ist sich absolut sicher, dass du es warst. Da lässt sich nichts ändern. Inzwischen ist es zu spät.« Sie hustete. »Quinn? Warum bist du so lange weggeblieben?«
»Ich hatte Angst. Ich habe gehört, was die Leute über mich dachten.«
Wieder musterte sie ihn und ließ ihren müden Blick an ihm hinuntergleiten, als verfolgte sie das Herabschweben einer Feder, die nur sie sehen konnte – von der Narbe an seinem Mund über seine Kehle zu den matten Knöpfen seiner Uniformjacke, bis sie seine Hände anstarrte, die jetzt neben seinem Körper baumelten. »Du warst im Krieg? Das wenigstens stimmt?«
Quinn nickte.
Sie bewegte die Lippen, und als er ihr stirnrunzelnd und kopfschüttelnd zu verstehen gab, dass er nichts gehört hatte, wiederholte sie ihre Worte: »War es schlimm?«
Berstende Erde, ein Soldat, der sich in der Abenddämmerung an einer Leiche verging, ein im Morast steckender verlassener Panzer, die Stille nach dem Sperrfeuer, wenn die verschiedenen Nationen ihre Toten zählten. Davon konnte er ihr nichts erzählen. Niemandem konnte er das erzählen, sonst würde man ihn für einen Lügner halten; niemand wollte wirklich wissen, wozu Menschen fähig sind.
Er hatte südlich von Grafton Bahngleise verlegt, bevor er zum Militär gegangen war, und hatte törichterweise geglaubt, ein Krieg sei eine elegante Sache mit klaren Ergebnissen. Er erinnerte sich an das bunte, an einem Karren befestigte Plakat mit der Parole ERGREIFT DAS SCHWERT DER GERECHTIGKEIT, die Worte begleitet von dem Bild einer schönen Frau, die mit solch einer Waffe in der erhobenen Faust vorwärtsstürmte. Damals war das aufregend gewesen, und er hatte sich dazugehörig gefühlt – etwas, das in seinem Leben so viele Jahre gefehlt hatte. Man sagte ihm, dort warteten Ruhm und Ehre und sie würden an etwas Wunderbarem teilnehmen, doch es war nichts als Lärm und Zerstörung gewesen.
Mary ließ die Hand über ihr feuchtes Haar gleiten. Sie leckte sich die Lippen. »Es ist bereits ein dunkles Jahrhundert. Wer weiß, was uns noch bevorsteht? Wenigstens hat Gott dich verschont, mein Sohn. Wenigstens hat er dich verschont.«
Im Behelfskrankenhaus in Harefield hatte ihm eine Schwester dasselbe gesagt. Der plötzliche Geruch von Karbolsäure und abgekühltem gekochtem Rosenkohl, das feuchte Knirschen von Schuhen mit Gummisohlen. Gott hat Sie wirklich verschont. Sie sollten mal einige von den anderen sehen. Da stehen einem die Haare zu Berge. Aber Sie wurden für irgendwas aufgespart .
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte seine Mutter.
»Schrapnell. Von der Artillerie in Frankreich.«
»Hast du Schmerzen?«
»Nicht mehr. Sie haben mich wieder ganz gut hingekriegt.
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