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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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sagte den Namen vor sich hin und tauchte in den Brunnen der Erinnerung. »Fox. Ja, ich erinnere mich. Draußen am Sutton Ridge. Bettelarm. Ich glaube, die Mutter war Näherin. Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht. Ja.« Sie schnaubte. »Stimmt, dein Vater hat irgendwo gehört, die Frau hätte was mit Zauberei zu tun, aber das bezweifle ich stark. Wahrscheinlich hat er das drüben beim dummen Sully gehört. Mein Bruder hat mir neulich erzählt, dass er ihnen helfen wollte, aber die Frau hat gesagt, dass er verschwinden soll. Warum willst du das wissen, Quinn?«
    »Bin bloß neugierig, das ist alles. In Frankreich bin ich jemandem begegnet, der sie kannte.« Er küsste seine Mutter auf die Stirn und stand auf, um zu gehen. »Ich muss los. Du bist müde. Morgen komme ich wieder.«
    Mary schloss die Augen. Trotz seines Besuches sah sie besser aus. Vielleicht taten ihr die Gespräche doch gut. Bevor er zur Tür hinausging, rief sie nach ihm. »Quinn. Wie hat Sarah dich immer genannt? Dieser witzige Name, als sie noch zu klein war, um deinen Namen richtig aussprechen zu können? Das hab ich mich neulich gefragt. Hab mir das Hirn zermartert, aber er ist mir nicht eingefallen.«
    »Pim.«
    »Ah, ja. Sie war wirklich ein liebes Ding.«
    13 Quinn zündete eine Kerze an, eine klägliche Verteidigung gegen die Dunkelheit. Draußen schwirrten Insekten in der warmen Nacht, und an den Zweigen hingen in schweren Büscheln die Fledermäuse. Wegen der Hitze hatte er seine Uniform größtenteils ausgezogen und trug nur Hose und Unterhemd. Die entblößten Arme und Knöchel waren schmal und unbehaart. Ringsum lag ein Archipel abgelegter Kleidungsstücke: sein Regenmantel, Stiefel, Uniformjacke, die Umhängetasche mit der Gasmaske.
    Sadie saß im Nebenzimmer, wo sie einen Gassenhauer vor sich hin sang und in ein Spiel vertieft war, bei dem man etwas auf den Boden klatschte. Danach scharrte sie irgendwelchen Kleinkram zusammen und schüttelte alles. Aufklatschen und zusammenscharren. Klatsch, klatsch. Das Ganze war äußerst lästig, doch nach dem morgendlichen Vorfall mit dem Sack voller Lebensmittel hatte er beschlossen, sie in Ruhe zu lassen. Sie war erst bei Einbruch der Dunkelheit zurückgekehrt und hatte immer noch nicht mit ihm gesprochen. Das Mädchen war nicht ganz normal; das sah man an ihrem schlurfenden Gang und ihren ziellos umherwandernden Augen. Waisen waren vermutlich immer gleichermaßen zart und verschlagen; beides hatte etwas Verzweifeltes. Sadie war da nicht anders. Quinn hatte überlegt, sie zu verlassen, sich aber dann entschlossen, vorerst zu bleiben. Das Mädchen brauchte ihn wohl, und außerdem musste er seiner Mutter zuliebe bleiben.
    Sie sang wieder in dem näselnden Ton jener Sängerin, die er vor Kurzem auf einem Grammofon gehört hatte. Smile and the world smiles with you, weep and you weep alone. La la la la clouds have silver linings la la la la getting through.
    Quinn zog eine verbeulte Streichholzdose aus der Hosentasche und nahm ein Stück Papier heraus, das wie eine winzige Landkarte mehrfach gefaltet war. Diesen Zettel des Mädchens Margaret trug er seit der Séance in London bei sich. Er wusste, was darauf geschrieben stand, musste es aber immer wieder lesen – wie den Brief einer Liebsten –, in der Hoffnung, er könnte die Worte neu erleben oder eine andere, versteckte Bedeutung darin entdecken. Doch in dem schludrigen Gekritzel, das inzwischen kaum noch lesbar war, steckte nur derselbe Satz, den er schon vor Monaten auf dem Papierfetzen gelesen hatte. Minutenlang starrte er ihn an.
    »Was ist das?«
    Verdutzt blickte er auf. Sadie stand in der Tür. Er überlegte, den Zettel zu verstecken, begriff aber, dass es sinnlos war – wahrscheinlich hatte sie ihn schon eine Weile beobachtet. Außerdem wollte er, dass sie blieb; er bereute sein Verhalten vom Morgen.
    »Eine Nachricht«, sagte er.
    »Von wem?«
    Er starrte sie an. Damals, an dem Abend in Abbey Wood, hatte Fletcher ihm dieselbe Frage gestellt, und Quinn hatte ihn mit abweisendem Murren abgewimmelt. Aber jetzt sah er sich gezwungen, die Wahrheit zu sagen. »Sie stammt … von einem Mädchen.«
    »Was für einem Mädchen?«
    Er schluckte. »Von meiner Schwester. Von Sarah.«
    Sadie kam zögernd näher, so wie Katzen ins Zimmer schleichen. Und es war klar, dass sie auch wie eine Katze Schritt für Schritt hereingelockt werden musste. Im Kerzenlicht flackerte ihr gesamter Körper, als könnte sie sich jeden Moment in Luft auflösen. Sie

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