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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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Quinn atmete aus und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
    »Du solltest dir einen Bart wachsen lassen«, sagte Sadie nach einer Weile. »Dann kannst du dir sicher sein, dass er dich nicht erkennt, wenn du ihn dir vorknöpfst.«
    Quinn tätschelte sein Gesicht. Während all der Jahre, in denen er unterwegs war, hatte er sich stets mit priesterlicher Hingabe rasiert, als könnte das angesichts der Schreckensszenen seine Menschlichkeit bewahren. Es war nur eine unbedeutende, zivilisierte Verrichtung, nicht immer leicht zu bewerkstelligen. Jetzt berührte er die Narbe an seinem Mund. Vielleicht hatte das Mädchen recht. Vielleicht war es hier draußen am Ende der Welt nicht mehr nötig, sich zu rasieren.
    Er hielt ihr eine der Orangen hin. »Hier«, sagte er, darauf bedacht, das Thema zu wechseln und ihr freundlicheres Verhältnis zu zementieren. »Bist du hungrig? Lass uns die essen.«
    »Nein. Die sind für dich. Das ist ein Geschenk.«
    Er balancierte die Orange auf der Hand. Er hatte sich den ganzen Tag ziemlich beherrschen müssen, um sie nicht zu essen. »Nein. Wir teilen sie uns, du und ich. Essen sollte geteilt werden, stimmt’s? Dann wird eine Mahlzeit daraus, hat meine Mutter immer gesagt.« Und während er allmählich die Wirkung des Alkohols spürte, begann er die Orange mit ungelenken Fingern zu schälen.
    Quinn hatte im Leben schon viele Orangen gegessen, doch das war bisher die beste. Sie verschlangen sie mitsamt der weißen Haut. Sie schmeckte süß und zugleich herb, so wie es sein sollte. Er genoss jeden Bissen und achtete darauf, dass ihm kein Tropfen Saft entging. Sadie leckte sich die Finger ab und grinste vor Freude. Ihr Lächeln machte ihn glücklich.
    »Wo hast du die ganzen Sachen gestohlen?«, fragte er.
    Im Kerzenlicht flatterten ihre Zähne wie unordentlich aufgehängte Wäsche an einer Leine. Sie sagte, sie habe den meisten Einwohnern schon mal was gestohlen. Die Leute folgten ihrem täglichen Trott, und sie müsse sie nur ein paar Tage lang beobachten, um zu wissen, wann sie nicht da sein würden. Von manchen Häusern halte sie sich natürlich fern. Sie mache das Ganze schon seit Jahren. Ihr Bruder habe ihr viele Tricks beigebracht. Es sei kinderleicht, und den meisten Familien falle es gar nicht auf, wenn ein Apfel oder ein paar Scheiben Brot fehlten. »Ich könnte dir alles besorgen, was du haben willst«, prahlte sie.
    »Zum Beispiel?«
    »Keine Ahnung. Ein Pferd? Hammer und Nägel. Ein Gewehr.«
    »Ich glaube, es würde auffallen, wenn ein Pferd verschwindet. Außerdem ist es unrecht zu stehlen.«
    »Besser als zu verhungern. War nicht meine Schuld, dass mein Vater abgehauen ist. Und der Krieg auch nicht. Wovon sollen wir sonst leben? Sieh dich doch mal um.« Sie grinste spöttisch und machte eine Handbewegung, die nicht nur das ramponierte, zerfallende Zimmer umfasste, in dem sie saßen, sondern auch den Aufstieg der Bolschewiken, die Grippeepidemie, den Weltkrieg mit den Gasbehältern und Flammenwerfern und den Mord an seiner Schwester durch ihren eigenen Onkel. Das Mädchen hatte recht. Angesichts einer solchen moralischen Katastrophe war Diebstahl kein Kapitalverbrechen.
    »Also, was soll ich dir besorgen?«, fragte sie nach einer Pause.
    »Ich brauche normale Kleidung. Ich hasse diese Uniform. Und dann noch Tabak.«
    Sadie musterte ihn von Kopf bis Fuß und pulte orangefarbenes Fruchtfleisch zwischen den Zähnen hervor. Seine prosaische Bitte schien sie zu enttäuschen. »Na gut.«
    »Eigentlich hab ich mich nur nach einer Orange gesehnt. Sogar im Krieg hab ich versucht, eine aufzutreiben. Ich hab jeden Bauern gefragt, bin dem Quartiermeister auf die Nerven gegangen. Mutter hat gesagt, als Kind hätte ich von Orangen gelebt. Ich mochte sie schon immer.«
    Sadie nickte. »Ja, ich weiß.«
    Quinn blickte sie an. »Woher denn?«
    Sadie erstarrte, die glänzenden Finger auf halbem Weg zum Mund. An ihrer Lippe hing ein Fetzen Fruchtfleisch. »Du redest im Schlaf.«
    »Von Orangen?«
    »Ja. Und auch von anderen Dingen. Dingen, die ich nicht verstehe. Vom Gas. Du murmelst alles Mögliche. Manchmal«, sagte sie lächelnd, sich für die seltsame Richtung erwärmend, die ihr Gespräch genommen hatte, »klingst du wie ein Hund.«
    »Ich belle?«
    »Nein. Es ist kein Bellen. Du klingst wie – ich weiß nicht – wie ein verletzter Hund. So was wie ein Winseln.«
    »Warum hast du mich im Schlaf beobachtet?«
    Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich muss mir sicher sein,

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