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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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(Lebenstropfen sind ein bewährtes Hausmittel bei Asthma, Bronchitis, Schnupfen, Ruhr, Fieber, Krampfleiden, Zahnschmerzen usw.). Selbst beim Backen oder Nähen erzählte sie ihren Kindern tausend seltsame Sachen, und auch wenn sich Sarah die Fakten und Zahlen eindeutig am besten merken konnte, käute Quinn oft, wie jetzt, irgendwelche Informationsschnipsel oder Gedichtzeilen wieder, die er offenbar an einem weit zurückliegenden Sommernachmittag von seiner Mutter gehört hatte. Meine Narde gab ihren Geruch .
    Und auf einmal dämmerte schon der Morgen. Ein schimmerndes Licht fiel in die Hütte. Es erinnerte ihn an das Schwimmen in einem tiefen, trüben See. Das Sperrfeuer hatte irgendwann in der Nacht aufgehört, und ausnahmsweise vernahm er auch kein fernes Grollen von Artillerie. Er beschloss, die Stille zu nutzen und so unauffällig wie ein Fels unter seinem Mantel zu liegen. Schon bald würde jemand über ihn stolpern, würde über ihn fluchen oder ihn sonst wie wecken, und dann könnte er Gott weiß wie lange nicht mehr schlafen. Los, Walker. Auf geht’s, Meek .
    Er nahm seine Atmung wahr, aber von innen her. Das feuchte An- und Abschwellen seiner ramponierten Lunge. Er zupfte einen Splitter vom Holzfußboden. Eine Ameise lief im Zickzack am Rand seines Blickfelds entlang. Es verblüffte ihn, dass ein so winziges Lebewesen einen eigenen Schatten besaß. Er hörte das Geräusch seines Blinzelns. Er nahm den Splitter der Länge nach zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte zu, bis die Haut des Zeigefingers und dann die des Daumens durchbohrt wurde. Zwei Blutstropfen blähten sich und platzten von ihrem eigenen Gewicht. Was für ein Gefühl, am Leben zu sein. In Zeiten des Krieges am Leben zu sein war, als wäre man mit Strom, mit Licht, mit Gewalt und Erbarmen aufgeladen, mit allem, wozu ein Mensch fähig war.
    Plötzlich hörte er Vogelgezwitscher und begriff, wo er sich befand. Der Krieg war vorbei. Sie hatten gewonnen. Natürlich. Besorgt setzte er sich auf. Er wischte sich den Mund ab, dessen lädierte linke Seite vom Speichel ganz aufgeweicht war. Wo war das Mädchen? Sie hatte gesagt, auf seinen Kopf sei eine Belohnung ausgesetzt. Du lieber Himmel! Natürlich.
    Draußen hörte er etwas umherstreifen. Schritte, Stimmen. Sadie, falls das überhaupt ihr richtiger Name war, hatte ihnen wahrscheinlich erzählt, wo er war. Hatte es Dalton erzählt. Sie würden ihn umbringen. Sein Onkel würde ihn an einem Baum aufknüpfen. Es war dumm gewesen, dem Mädchen zu trauen. Er war benebelt, das war das Problem. Wegen der Hitze und allem, wegen seiner Verzweiflung über den schrecklichen Zustand seiner Mutter.
    Er hob ein Brett auf und stellte sich geduckt hin, wie ein großer Vogel kurz vor dem Losfliegen, der Mantel neben ihm auf den Boden gebreitet. Das Mädchen kam herein, einen prallen Mehlsack an die Brust gedrückt. Quinn hob das Brett, als wollte er zuschlagen.
    Kindliche Enttäuschung huschte über Sadies Gesicht. »Tu mir nichts«, sagte sie.
    Die Worte waren kaum zu hören, doch er konnte ihre Bedeutung in Sadies flehendem Blick lesen.
    »Wer ist bei dir?«, wollte er wissen.
    »Niemand.«
    »Lüg mich nicht an.«
    »Es ist niemand da.«
    »Ich habe Stimmen gehört.«
    Das Mädchen murmelte irgendwas.
    »Was?«
    »Ich habe ein Lied gesungen.«
    Quinn hielt inne. Er neigte den Kopf zur Seite, wie Halbblinde es tun, um Konturen oder Bewegungen besser erkennen zu können, hörte aber nichts mehr. Wenn das Mädchen Dalton oder seinen Vater mitgebracht hätte, hätten sie sich inzwischen gezeigt. Quinn entspannte sich, ließ das Brett aber noch nicht sinken.
    »Wo warst du?«
    Als Antwort hob sie ihren Sack hoch.
    »Was ist das?«
    »Ich habe uns was zu essen besorgt. Frühmorgens geht das am besten.«
    »Wer hat dir das gegeben?«
    Sie lachte trocken. »Gegeben hat mir das niemand.«
    Quinn wischte sich den Mund ab und ging auf sie zu. Sie behielt das Brett im Auge, als bereitete sie sich darauf vor, wegzuspringen, falls er versuchte, sie damit zu schlagen. Er packte sie am Handgelenk und zog ihren heißen Körper an sich. Dann zerrte er das zappelnde, sich windende Mädchen nach draußen.
    Sie hatte die Wahrheit gesagt: Es war niemand da. Er ließ sie wieder los.
    Starr stand sie da, den Kopf gesenkt, das Haar ein schlaffer Vorhang vor ihrem Gesicht. Die Fingerknöchel der Hand, die den Sack hielt, waren weiß vor Wut. Da, wo Quinn sie gepackt hatte, prangte auf der Innenseite ihres Handgelenks ein

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