Beraubt: Roman
strich das Haar aus dem Gesicht und legte die Stirn in Falten. »Trägst du das seit … seit ihrem Tod mit dir rum?«
Quinn, der im Schneidersitz auf dem Fußboden saß, starrte sie an. »Ich bin nicht ihr Mörder. Auch wenn sie mich im Ort so nennen, ich war’s nicht. Du musst mir glauben. Mein Onkel hat sie ermordet.«
Sie musterte ihn mit ihren dunklen, durchdringenden Augen. Sie hatte die mädchenhafte Angewohnheit, den Daumen über die Naht an der Hüfte ihres Leinenkleids gleiten zu lassen, rauf und runter, rauf und runter, ein Bild der Unschlüssigkeit. Das tat sie auch jetzt. An dieser Stelle war der Stoff schmutzig und verschlissen.
»Du musst wirklich keine Angst vor mir haben«, sagte Quinn. »Ich tu dir nichts.«
Ihre Lippen bewegten sich.
»Wie bitte?«
»Versprochen?«, fragte sie.
»Klar.«
Sie spitzte die Lippen. »Schwörst du’s bei deiner Seele?«
Quinn faltete den Zettel zusammen, schob ihn in die Streichholzdose zurück und steckte diese wieder in die Hosentasche. »In Ordnung. Ich schwöre es bei meiner Seele.«
Sadie war fürs Erste beruhigt. Sie blickte sich um, als suchte sie ein geeignetes Gesprächsthema, und befasste sich weiter mit der Naht ihres Kleides. Die Kerzenflamme zitterte im Wind. Schließlich drückte Sadie sich ins Zimmer und lehnte sich an die Wand. Bei diesem Licht wirkte sie entrückt, ruhelos, zugleich nah und fern. Weil sie beim Spielen gekniet hatte, wies ihr Kleid zwei Schmutzflecke auf. Der Saum war zerrissen, ihr Haar zerzaust, doch das wurde durch ihre angeborene Eleganz und ihr herausforderndes Wesen gemildert. Quinn empfand Mitgefühl für sie, nicht nur um ihre Zukunft besorgt, sondern auch wegen allem, was in ihrem kurzen Leben bereits passiert sein mochte.
»Ich habe auch einen Brief«, verriet sie. »Von meinem Bruder. Willst du ihn sehen?«
Quinn lächelte erleichtert. Er spürte, dass er ihr Vertrauen zurückgewonnen hatte. »Ja. Klar.«
Sie rannte in ihr Zimmer. Er hörte sie herumstöbern, hörte das Scheppern einer Dose. Dann war sie wieder da, mit rotem Kopf und strahlenden Augen. In der Hand hielt sie ein zerknittertes Blatt Papier. Sie überflog alles noch mal, als wollte sie sich vergewissern, dass es der richtige Brief war, dann gab sie ihn Quinn.
Er war in einer sorgfältigen, schrägen Handschrift verfasst.
Liebste Mutter,
ich nehme hier Flugstunden. Darf Dir wegen der Zensuhr nicht sagen wo ich bin oder was für Maschinen ich fliegen lerne aber es geht mir gut. Habe hier gute Kameraden einer kommt sogar aus Bathurst! Wir arbeiten hart und wollen endlich in den Einsatz und es den Teutonen ordentlich zeigen. Auf dem Schiff nach hier war ich richtig seekrank. Ich kriege viel von der Welt zu sehen in Ägipten hab ich versucht auf einem Kamel zu reiten aber das Vieh hat sich geweigert loszulaufen. Ich habe es meermals versucht. Die Ägipter haben sich auf meine Kosten halb todgelacht. Das sind die reinsten Teufel sie wollen einem ständig irgendwas verkaufen man kann ihnen nicht trauen. Ich komme jetzt lieber zum Schluss. Mach dir keine Sorgen, denn es geht bestimmt alles gut der Krieg wird nicht lange dauern. Kannst Du mir bitte ein paar Socken schicken hier ist es kalt. Kümmere Dich gut um meine liebe Schwester sag ihr ich schicke bald eine Ansichzkarte.
Dein Dich liebender Sohn Thomas
Der Brief datierte vom Juni 1917 , das war fast zwei Jahre her. Höchstwahrscheinlich war es der Brief eines Toten, während der Ausbildung in England abgeschickt. Das Ganze klang ziemlich naiv; nur wer noch nicht gekämpft hatte, hatte geglaubt, dass der Krieg schnell vorbei sein würde.
Sadie schnappte sich den Brief wieder. »Siehst du? Er kommt bald nach Hause.«
»Du könntest nach Sydney gehen, wenn es sonst niemanden gibt, der sich um dich kümmert. Da gibt’s Organisationen, die für Kinder wie dich sorgen. Waisenkinder. Du bist jetzt eine Waise. Das Rote Kreuz könnte sich um dich kümmern.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du bist wie Robert Dalton.«
Quinn war bestürzt. »Nein! Nein. Ich bin ganz und gar nicht wie er. Das darfst du nicht mal denken. Bitte. Niemals. Ich bin nicht wie er.«
Das Mädchen schwieg eine Weile, bis er voller Entsetzen merkte, dass sie weinte. Er stand auf und durchquerte das Zimmer, um sie zu trösten, doch sie entwand sich seiner Umarmung.
»Ich will nicht bei fremden Leuten leben«, sagte sie. »Ich will Mutter wiederhaben, mein Bruder soll nach Hause kommen. Thomas weiß, was zu tun ist. Alles soll wieder
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