Beraubt: Roman
vorbeigebracht hatte. Vater war auf der Arbeit. William lag mit Fieber im Bett, und Mutter las ihm aus Huckleberry Finn vor. Sie durfte mich nicht sehen, weil sie mich sonst reingerufen hätte, aber ich stand an der Tür und lauschte. William schlief, und Mutter las gerade die Stelle, wo Huck auf dem Fluss das Kanu findet. Ich hab meine Mutter immer gern vorlesen hören, deshalb blieb ich. Ich ließ mich ablenken.« Quinn erinnerte sich an die warme Stimme seiner Mutter.
»Und als ich mich wieder auf den Weg machte, war das Wetter umgeschlagen. Ein Gewitter zog auf. Ich weiß noch, wie ich es im Westen donnern hörte. Du hast recht – Sarah hatte Angst vorm Donner. So ziemlich das Einzige, wovor sie Angst hatte. Und als ich zu der Stelle kam, an der wir gespielt hatten, war sie nicht mehr da.« Er hatte das raue Heulen des Windes in den Kiefern gehört und das Stechen der Nadeln gespürt, die ihm ins Gesicht geweht wurden. Auf dem Boden, halb im Laub vergraben, hatte er einen von Sarahs Schuhen entdeckt, den roten mit der rostigen Schnalle. Auf der Erde waren Schleifspuren zu sehen gewesen.
Er drehte sich noch eine Zigarette. »Und ich hatte sofort schreckliche Angst, keine Ahnung, warum. Nur so ein Gefühl. Ich fand ihren Schuh. Er war voller Ameisen; weißt du, wie die umherlaufen, wenn es bald regnet?«
»Vielleicht wussten sie, wo Sarah war.«
»Und dann hab ich mich hingesetzt. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich rief nach ihr, aber das war zwecklos. Es war, als hätte der Wind sie fortgeweht. Es war unmöglich, irgendwas zu hören, genau wie manchmal im Krieg. Dieser schreckliche Lärm, der Donner ganz nah.« Er tippte sich an die Schläfe. »Das Dröhnen direkt zwischen den Ohren.«
Er zündete seine Zigarette an. Durch die Tränen, die ihm in die Augen strömten, sah Sadie körperlos aus, als könnte sie sich jeden Moment in Luft auflösen. Er zog an der Zigarette und hustete. »Nach einer Weile fing ich an, sie zu suchen, in immer größerem Umkreis. Ich stieg zum Hügelkamm rauf, von wo ich das Tal überblicken konnte, aber es regnete inzwischen so stark, dass kaum was zu erkennen war. Ich war nass bis auf die Haut. Dann entlud sich ein Blitz über der Kirche, und in dem Licht sah ich sie, drei Menschen, die über die Koppel neben Sullys Schmiede eilten.«
Er schloss die Augen, um sich die Szene besser ins Gedächtnis zu rufen. »Zwei Männer, die Sarah mit sich schleiften. Aber als ich bei Sullys Koppel ankam, waren sie längst verschwunden. Ich sprang über den Zaun und lief in die Richtung, die sie eingeschlagen hatten. Irgendwann glaubte ich jemanden schreien zu hören, aber vielleicht war es nur das Gewitter. Es hätte alles Mögliche sein können, ein Tier, der Wind …«
»Vielleicht war es Mrs. Crink – die an jenem Tag durch den Blitz ihr Augenlicht verlor?«
Er nickte und verstummte. Trotz ihrer beharrlichen Fragen war er außerstande, ihr zu erzählen, wie er nach ungefähr einer Viertelstunde festgestellt hatte, dass die Schreie aus dem alten Schuppen auf Wilson’s Point kamen. Wie er durch den peitschenden Regen hinübergeschlichen war, bis er durch ein Loch in der Bretterwand beobachten konnte, wie sein Onkel in seine um sich tretende Schwester eindrang, während der andere Mann ihre Arme umklammerte und ihr den Mund zuzuhalten versuchte. Die Schenkel seiner Schwester waren so weiß wie Milch gewesen. Auf dem Boden lagen zwei nasse Gewehre. Als Robert fertig war, stand er auf und zog sich lachend die Hose hoch, aber plötzlich schrie Sarah und schlug um sich, und sein Onkel stieß ihr ein Jagdmesser in die Brust. Quinn hatte einen Schrei unterdrückt und war von dem Astloch zurückgezuckt. Donnerschläge und Donnergrollen. Er hatte das vergebliche Stampfen und Scharren von Sarahs Schuh auf dem morschen Fußboden gehört, den Atem der beiden Männer im Schuppen, während sie sich über das Geschehene stritten wie zwei Kobolde. Sie hätte mich sowieso identifiziert, antwortete Robert gerade auf die Einwände des anderen Mannes. Ich musste …
Seine Sprachlosigkeit erinnerte Quinn daran, wie er danach die Landschaft durchstreift und in Mulden oder auf Bäumen geschlafen hatte. Er zog an seiner Zigarette.
Sadie kratzte sich an der Wange. »Warum hast du sie nicht gerettet? Wenn du doch da warst?«
Quinn starrte sie durch die Tränen an. Die Antwort lag auf der Hand. »Hab ich dir doch gesagt. Weil ich schreckliche Angst hatte. Ich fürchte mich vor meinem Onkel. Du wirst
Weitere Kostenlose Bücher