Beraubt: Roman
auf. Er erkannte den Turm der anglikanischen Kirche in der Main Street und die Arbeiterbildungsstätte. Er hörte das Plätschern des Flusses und sah in den Fenstern Lampen brennen. Sie mussten sich auf der nordwestlichen Seite des Ortes befinden, zwischen dem Fluss und den alten Schächten. Ein Hund bellte, dann noch einer.
Sadie zog aus ihrer Umhängetasche eine Feldflasche hervor, nuckelte geräuschvoll daran und hielt sie ihm danach hin.
»Woher hast du die?«
»Von Jack Fraser. Willst du was?«
»Die hast du auch gestohlen?«
Sie wandte ihm das Gesicht zu. Wasser glitzerte an ihrem Kinn. »Mr. Fraser ist im Krieg gestorben. Sie lag schon eine Ewigkeit in der Schublade.«
Sie sprach von seinem Tod, als ginge es bloß darum, dass der arme Jack etwa einen Laib Brot verloren hatte. Vermutlich war es heutzutage ungewöhnlicher, von einem jungen Mann zu hören, der am Leben und wohlauf war.
Er nahm die Flasche und trank. »Wer ist sonst noch gestorben? Im Krieg, meine ich.«
Sadie machte ein lebensüberdrüssiges Gesicht. Wie bei einem Mädchen, das in den Schuhen der Mutter herumrutscht, hatte das etwas Erwachsenes, das sie noch nicht richtig beherrschte, und es hätte komisch sein können, wenn es nicht bedeutet hätte, dass die Toten zu zahlreich waren, um alle zu kennen.
»Also«, begann sie und zählte die Namen an den Fingern ab, »Billy Quail wurde erschossen. Robert Sully. Mr. Gollings, der draußen in der Nähe vom Jersey Creek gewohnt hat. Jack und Graeme Fletcher, die Söhne des Metzgers.« Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ein nervöses Kichern zu unterdrücken. »Einer von den Williams-Jungen ist zurückgekommen, aber sein Gesicht ist ganz zerschmolzen. Ich hab ihn gesehen, und als er mich angeschaut hat, habe ich geschrien, bin weggerannt und gestolpert. Ich hab mir am Handgelenk wehgetan.« Sie hielt die Unterseite der Hand hoch, um es ihm zu zeigen.
Quinn erinnerte sich, ähnliche Verwundete gesehen zu haben. Männer mit zerschundenen Gesichtern. Geschöpfe in Nachthemden, die die Flure entlanggeschoben wurden. Die Arm- und Beinamputierten und die Stummen. Die Krankenstationen in Harefield waren nur schummrig beleuchtet gewesen, doch er hatte gespürt, wie die bandagierten Geschöpfe ihn mit ihren flehenden Blicken beobachteten, wenn er vorbeiging. Er hatte gehört, dass die Ärzte ihnen Blechmasken anpassten, auf denen die weggerissenen Gesichter – Augen, Nasen, Kinn, Wangen, Ohren – nachgebildet und aufgemalt waren, und der Gedanke, dass die Männer in Abbilder ebenjener Maschinen verwandelt wurden, die sie verstümmelt hatten, entsetzte ihn.
Sadie holte ein Messingrohr hervor, das er als zusammengeschobenes Teleskop identifizierte. Geschickt zog sie es auseinander, legte sich auf den Bauch, ließ den Blick minutenlang über den Ort schweifen und gab alle paar Sekunden ein Knurren von sich, wenn sie etwas erkannte. Dann reichte sie Quinn das Teleskop, der es an sein rechtes Auge hielt.
Es dauerte einen Augenblick, bis er sich an das schwindelerregende Gefühl gewöhnt hatte, die Welt so stark vergrößert und massig zu sehen. Er sah ein verschwommenes Licht, das Rad eines Fahrrads. Einen schlaffen Union Jack an einer Fahnenstange. Der Mond schien auf das Dach von Sullys Schmiede in der Gully Road. Auf der Straße vor dem Mail Hotel standen drei Männer unter einer Gaslaterne. Einer von ihnen beugte sich lachend vor, um sich auf den Schenkel zu schlagen. Natürlich drang kein Geräusch an Quinns Ohr. Ein anderer Mann stürzte sein Bier hinunter und ging mit schlingerndem Gang wieder hinein, und er hätte ihn wohl für betrunken gehalten, wenn ihm nicht aufgefallen wäre, dass er ein Holzbein hatte.
Sadie stand auf und streifte sich das Gras vom Kleid. »Komm«, sagte sie, schnappte sich das Teleskop und steckte es in ihre Umhängetasche. Ohne etwas zu sagen, trotteten sie im feuchten Schatten der Kiefern, umrundeten ein offenes Feld, schlichen über eine Koppel und tauchten in die leeren Straßen dieses Ortes voller Witwen ein.
Sadie führte ihn das untere Ende der Main Street entlang, wo sie gewissermaßen im Nichts auslief. Sie durchquerten den Obstgarten neben der anglikanischen Kirche. Sadie wartete, bis er durch den Drahtzaun gekrochen war, dann nahm sie seine Hand und lächelte, zwei Gesten, die in ihm eine schier unerträgliche Freude auslösten. Ihm war nach Lachen zumute. Ihre Hand lag heiß, klein und wild in seiner eigenen. Der Obstgarten war vom Geruch überreifer
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