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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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es gibt eine Erklärung. Ich weiß bloß nicht … Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal in der Kirche war. Der Krieg hat alles unterbrochen.«
    Das stimmte nicht ganz; im Behelfskrankenhaus in Harefield hatte man jeden Sonntag in einer nahegelegenen Halle Gottesdienste abgehalten, doch die paar Mal, die er daran teilgenommen hatte, hatte er sich nicht konzentrieren können und stattdessen aus dem Fenster gestarrt oder die hübschen Krankenschwestern und die Hinterköpfe der Soldaten angestiert. Auch an der Front waren den Bataillonen Kaplane zugeteilt. Früher wäre ihm zur Erklärung bestimmt irgendeine Bibelstelle eingefallen, doch das war vorbei. Im Grunde genommen war es eine ausgezeichnete Frage.
    »Ich weiß es nicht mehr«, sagte er wieder.
    Sie schien mit dieser stockenden Antwort unzufrieden zu sein, wartete aber höflich. Augenscheinlich erwartete sie, dass er dieses Problem für sie löste.
    »Warum willst du das überhaupt wissen?«, blaffte er.
    »Ach, du weißt schon. Es kommt in diesem Lied vor.« Und sie drehte sich auf den Fersen um und verließ das Zimmer.
    Quinn hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Welches Lied? Er hob einen der Knochen vom Fußboden auf. Vom langen Dahocken taten ihm die Fußgelenke weh. Er zündete weder eine Kerze noch eine Lampe an. Ringsum sickerte Dunkelheit ein, ballte sich an den Fensterbänken, in den Falten seiner Kleidung und in seinem Haar. Die Abenddämmerung war seine liebste Tageszeit, weil es stets einen Augenblick gab, in dem er sich vorstellen konnte, dass es heller statt dunkler wurde.
    Doch dieser Augenblick währte nur kurz, und als es so dunkel war, dass er fast nichts mehr sehen konnte, öffnete er die Hand und hielt sie sich so nah vors Gesicht, dass er auf einer Seite des Knochens eine ganz verblasste Markierung entdeckte. SW . Erleichtert und zugleich beunruhigt starrte er die Buchstaben an. Das Mädchen begann wieder zu singen.
    Pack up your troubles in an old kitbag
    And smile, smile, smile
    While you’ve got a Lucifer to light your fag
    Smile, boys, that’s the style
    Und wie ein allmählich ansteigender Fluss breitete sich aufs Quinns Gesicht tatsächlich ein Lächeln aus. Irgendwie, auf eine Art, über die man am besten nicht nachdachte, hatten sie sich gegenseitig heraufbeschworen. Er erschauderte in seltsamer Freude.
    19 Später an jenem Abend, nachdem Quinn eine aus Dosenfleisch und altbackenem Brot bestehende Mahlzeit zu sich genommen hatte und nun draußen auf einem Baumstamm saß und eine Zigarette rauchte, tauchte plötzlich Sadie neben ihm auf. Wie immer trug sie ihr schmutziges Kleid und war barfuß. Ihre inzwischen braunen Arme und Beine waren nahezu unsichtbar, und anfangs war nicht mehr zu erkennen als ein undeutliches Gesicht über einem hohlen Kleid. Sie hatte begonnen, seinen herumliegenden Khakitornister über der Schulter zu tragen. Das verlieh ihr etwas Eigentümliches, als könnte sie ihn jeden Moment auffordern, sich auszuweisen, um seinen Zutritt in ihr kindliches Land zu regeln.
    Sie reichte ihm seine Uniformjacke, die in ihrer Hand so schlaff wie ein Tierfell aussah. »Hier. Zieh das an.«
    »Was? Warum?«
    »Ich brauche deine Hilfe. Wir müssen was holen. Dabei müssen wir auf alles gefasst sein. Es ist ein Abenteuer, eine Mission. Wie im Krieg. Und wenn du die Jacke trägst, sieht man dich nicht.«
    Quinn zog ein letztes Mal an seiner heruntergebrannten Zigarette. Ringsum hörte er das beharrliche Schwirren der Stechmücken. Gegen seinen Willen verspürte er eine freudige Erregung. Ein Abenteuer. Er zog die Uniformjacke an. »Gut. Gehen wir.«
    Sadie klatschte entzückt in die Hände und lächelte, vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, vor Freude statt voller Argwohn. Und zu Quinns Überraschung bückte sie sich auch noch und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie ihn mit einem Ruck hochzog. »Gehen wir.«
    »Wo soll’s denn hingehen?«
    Doch sie hatte sich bereits auf den Fersen umgedreht und war mit im Dunkeln aufblitzenden Beinen davongelaufen. Es fiel ihm schwer, mit ihr Schritt zu halten, und er verlor sie mehrmals aus den Augen, doch sie tauchte stets wieder auf, um ihn weiterzuführen, bis sie nach ungefähr einer halben Stunde auf einem niedrigen Hügel ankamen, wo sie niedersanken, um Atem zu schöpfen.
    Quinn brauchte eine Weile, um sich zu orientieren, doch nach ein paar Minuten tauchten zu seiner Rechten die klotzigen, schemenhaften Gebäude von Flint aus der Dunkelheit

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