Berg der Legenden
Hälfte der Zufahrt hinter sich gebracht, als George seine Töchter auf der Treppe winken sah. Er konnte kaum glauben, wie groß sie geworden waren. Clare hielt ein kleines Bündel in ihren Armen.
»Ist das der, von dem ich glaube, dass er es ist?«, fragte George und wandte sich lächelnd an Ruth.
»Ja. Endlich lernst du deinen Sohn und Erben kennen, Master John Mallory.«
»Nur ein kompletter Idiot konnte dich auch nur für einen Tag, geschweige denn für sechs Monate allein lassen«, sagte George, als der Wagen vor dem Haus anhielt.
»Dabei fällt mir ein«, sagte Ruth, »es hat noch jemand angerufen und dringend um deinen Rückruf gebeten.«
»Wer?«, fragte George.
»Mr Hinks.«
46
Ruth half George in seinen Talar, ehe sie ihm sein Barett und den Regenschirm reichte. Es war, als wäre er nie fort gewesen.
Nachdem er sie geküsst und sich von den Kindern verabschiedet hatte, marschierte er zur Tür hinaus und schlug den Weg zur Hauptstraße ein. Beridge fragte: »Geht Daddy schon wieder weg?«
George sah auf die Uhr, neugierig darauf, wie lange er jetzt bis zum Schultor brauchen würde. Ruth hatte dafür gesorgt, dass er rechtzeitig aufbrach, um pünktlich zu seinem Termin mit dem Schuldirektor zu kommen.
Die Times hatte sich an diesem Morgen ausgesprochen wohlwollend gezeigt und ausführlich über die triumphale Heimkehr der Everest-Expedition berichtet. Der Korrespondent schien sich nicht daran zu stören, dass keiner von ihnen den Gipfel erreicht hatte, gleichwohl schrieb er, Finch beabsichtige, auf jeden Fall im nächsten Jahr zurückzukehren, um genau das zu tun. Gegen Ende des Artikels wurde Mr Hinks zitiert, der andeutete, dass George die erste Wahl des Mount-Everest-Komitees als bergsteigerischer Leiter für eine zweite Expedition sei. Zweifelsohne war dies der Grund, weshalb Hinks ihn so dringend sprechen wollte. Doch George hatte vor, Hinks genau das zu sagen, was er in wenigen Minuten dem Schuldirektor sagen würde: Seine Zeit als Bergsteiger war vorüber. Er freute sich auf ein Leben zu Hause mit der Familie, während er gleichzeitig der fünften Klasse die Heldentaten von Elizabeth, Raleigh und Essex nahebringen würde …
Ein Lächeln huschte über Georges Gesicht, als er sich das Dilemma ausmalte, in dem Hinks stecken würde, sobald die Entscheidung anstand, wer ihn als bergsteigerischen Leiter ersetzen sollte. Es läge auf der Hand, Finch zu bestimmen – er war ohne Frage der fähigste und erfahrenste Bergsteiger, und er war der Mann, der bei der letzten Expedition am höchsten gekommen war. Doch George bezweifelte nicht, dass Hinks irgendwelche zwingenden Gründe finden würde, die dagegen sprachen, und dass das Komitee entweder Norton oder Somervell zum bergsteigerischen Leiter ernennen würde. Doch nicht einmal Hinks würde Finch davon abhalten können, den Gipfel weit vor den beiden zu erreichen, insbesondere, wenn er von seinen zuverlässigen Sauerstoffflaschen unterstützt wurde.
Als die Schulkapelle in Sichtweite kam, sah George erneut auf die Uhr. Er mochte zwar sechsunddreißig Jahre alt sein, aber er hatte noch nichts von seiner Schnelligkeit eingebüßt. Als er durch das Schultor schritt, hatte er vielleicht keinen neuen Rekord aufgestellt, aber er war verdammt nah dran.
George schlenderte über den Haupthof auf das Studierzimmer des Direktors zu und lächelte ein paar Jungen zu, die er nicht kannte. Aus ihrer Reaktion wurde deutlich, dass sie keine Ahnung hatten, wer er war, was ihn an seine erste Zeit in Charterhouse erinnerte. Wie nervös er gewesen war, wann immer er einem Schüler gegenübergestanden hatte, ganz zu schweigen vom Schuldirektor!
Mr Fletcher war ein Pedant in Sachen Pünktlichkeit, und er würde ohne Zweifel erfreut und möglicherweise sogar überrascht sein, dass George fünf Minuten zu früh war. George zupfte seinen Talar zurecht und nahm das Barett ab, ehe er an die Tür des Vorzimmers klopfte.
»Herein«, rief eine Stimme. George betrat das Zimmer und erblickte Fletchers Sekretärin, Miss Sharpe, hinter ihrem Schreibtisch. Nichts hatte sich geändert, dachte er. »Willkommen daheim, Mr Mallory«, sagte sie. »Darf ich Ihnen sagen«, fügte sie hinzu, »wie sehr wir uns alle gefreut haben, Sie am Everest triumphieren zu sehen?« Am Everest, dachte George, aber nicht auf dem Gipfel. »Ich werde dem Direktor sagen, dass Sie hier sind.«
»Danke, Miss Sharpe«, sagte George, als sie in das angrenzende Zimmer ging. Einen Moment später wurde
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