Berg der Legenden
bin. Ich schreibe Dir, um Dich zu warnen, dass ich irgendwann nächste Woche zurück sein werde. Ich werde Dir vom Schiff aus telegraphieren, wann genau wir in Southampton anlegen werden.
Die zweite gute Nachricht ist, dass ich morgen Abend in New York eine letzte Gelegenheit bekomme, die Geldmittel der Society aufzustocken.
Das einzig Gute an der Verkürzung der Reise ist, dass ich Dich und die Kinder früher wiedersehen werde als erwartet. Aber noch einmal zurück zur Wirklichkeit. Sobald ich zurück bin, muss ich mich als Erstes nach einer Stellung umsehen.
Ich sehe Dich schon bald, Liebes.
Dein Dich liebender Mann,
George
Ruth lächelte, als sie den Brief zurück in den Umschlag schob und in die oberste Schublade ihres Schreibtisches zu all den anderen Briefen legte, die George ihr im Laufe der Jahre geschrieben hatte. Sie warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Ihr Zug nach London würde erst in einer Stunde aus Godalming abfahren, doch Ruth hatte das Gefühl, schon bald zur Bahnstation aufbrechen zu müssen. Denn dies war eine Verabredung, zu der sie nicht zu spät kommen durfte.
49
Kurz vor neun klopfte George an die Eingangstür eines Sandsteinhauses in der 64. Street West. Ein Butler mit langem, schwarzem Frack und weißer Krawatte öffnete die Tür.
»Guten Abend, Sir. Mrs Harrington erwartet Sie.«
George wurde in einen Salon geführt, wo Mrs Harrington neben einem Kaminsims unter einem Ölgemälde von Bonnard stand – eine nackte Frau, die gerade aus dem Bad stieg. Seine Gastgeberin trug ein hellrotes Seidenkleid, das ihre Knie kaum bedeckte. Er konnte keinen Ehe- oder Verlobungsring entdecken, aber sie trug eine Halskette aus Diamanten sowie ein dazu passendes Armband.
»Danke, Dawkins«, sagte Mr Harrington, »das wäre dann alles.«
Kurz bevor der Butler die Tür erreicht hatte, fügte sie hinzu: »Ich brauche Sie heute Abend nicht mehr.«
»Wie Sie wünschen, Madam«, sagte der Butler und verbeugte sich, ehe er die Tür hinter sich schloss. George hätte schwören können, dass der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
»Nehmen Sie doch Platz, George«, sagte Mrs Harrington und deutete auf das Sofa. »Und lassen Sie mich Ihnen etwas zu trinken bringen. Was möchten Sie?«
»Ich nehme an, ich werde mich mit Orangensaft begnügen müssen«, sagte George.
»Keineswegs«, entgegnete Mrs Harrington. Sie ging zur anderen Seite des Zimmers, berührte eine ledergebundene Ausgabe von Harte Zeiten , und schon schwenkte das Bücherregal herum und verwandelte sich in eine Bar. »Scotch und Soda?«, schlug sie vor.
»Gibt es irgendetwas, das Sie nicht über mich wissen?«, fragte George lächelnd.
»Ein oder zwei Dinge«, sagte Mrs Harrington, als sie sich neben ihn auf das Sofa setzte. Ihr Kleid rutschte ein paar Zentimeter über die Knie. »Aber geben Sie mir etwas Zeit, und ich werde dem abhelfen.« George rückte nervös seine Krawatte zurecht. »Nun, erzählen Sie mir, George, wie meine kleine Spende Ihre nächste Expedition unterstützen kann.«
»Um die Wahrheit zu sagen, Mrs Harrington«, sagte George und nippte an seinem Scotch – es war sogar seine Lieblingsmarke –, »brauchen wir jeden Penny, den wir in die Finger bekommen. Eine der Erkenntnisse der letzten Reise lautet, dass wir einfach nicht gut genug vorbereitet waren. Mit genau demselben Problem sah sich Captain Scott auf seiner Reise zum Südpol konfrontiert, und es führte dazu, dass er zusammen mit den anderen Polarreisenden den Tod fand. Ich bin nicht bereit, meine Männer demselben Risiko auszusetzen.«
»Sie sind so schrecklich ernst, George«, sagte Mrs Harrington, beugte sich vor und tätschelte sein Knie.
»Es ist eine ernste Angelegenheit, Mrs Harrington.«
»Nennen Sie mich Estelle«, sagte sie und schlug die Beine übereinander, so dass die Spitze ihrer schwarzen Strümpfe zu sehen war. »Glauben Sie, dass Sie nächstes Mal den Gipfel erreichen werden?«
»Schon möglich«, sagte George, »aber man braucht immer auch ein wenig Glück, nicht zuletzt mit dem Wetter. Wenn man zwei oder vielleicht sogar drei Tage ohne Wind hintereinander erwischt, hat man immerhin eine Chance. Gerade, als ich dachte, dass ich meine Chance bekommen würde, brach leider eine Katastrophe über uns herein.«
»Ich hoffe sehr«, sagte Mrs Harrington, »dass über mich keine Katastrophe hereinbricht, wenn ich meine Chance bekomme.« Ihre Hand ruhte jetzt auf Georges Schenkel. Georges Gesicht nahm die Farbe von
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