Berg der Legenden
seinen Gast den Raum betreten sah, entschuldigte er sich und führte George mit den Worten »Ich fürchte, ein Barhocker ist das Höchste, das viele von ihnen heutzutage noch erklimmen können« in den Speisesaal.
Während sie sich das Mahl, bestehend aus brauner Windsorsuppe, Steak und Bohnenmus, gefolgt von Vanilleeis, schmecken ließen, erläuterte Young George das Programm, das er für ihre bevorstehende Exkursion in die Alpen geplant hatte. Aber George spürte, dass seinen Gastgeber noch etwas anderes beschäftigte, da er ihm bereits überaus detailliert geschrieben hatte, welche neuen Besteigungen sie diesen Sommer versuchen würden. Doch erst als sie sich mit Kaffee und Brandy in die Bibliothek zurückzogen, kam George hinter den wahren Grund für die Einladung.
»Mallory«, sagte Young, sobald sie sich in eine Ecke des Raumes zurückgezogen hatten, »würde es Ihnen etwas ausmachen, mich nächsten Donnerstagabend als mein Gast zur Royal Geographical Society zu begleiten, wenn Captain Scott von seiner bevorstehenden Expedition zum Südpol berichtet?«
George verschüttete beinahe seinen Kaffee, so angetan war er von der Aussicht, den unerschrockenen Forscher über seine Entdeckungsreise sprechen zu hören, nicht zuletzt, weil er erst kürzlich in der Times gelesen hatte, dass binnen Stunden sämtliche Eintrittskarten vergriffen waren, nachdem die Royal Geographical Society den Redner für ihren jährlichen Gedenkvortrag bekanntgegeben hatte.
»Wie haben Sie es geschafft …«, begann George.
»Als Komiteemitglied des Alpine Clubs ist es mir gelungen, dem Sekretär der RGS zwei zusätzliche Eintrittskarten abzuschwatzen. Aber natürlich erwartet er dafür seinerseits einen kleinen Gefallen.«
George wollte zwei Fragen auf einmal stellen, doch es zeigte sich rasch, dass Young das bereits vorausgesehen hatte.
»Natürlich wollen Sie wissen, wer mein anderer Gast sein wird«, sagte Young. George nickte. »Nun, es wird keine große Überraschung sein, denn ich habe den einzigen andern Bergsteiger von Ihrem Format eingeladen.« Young schwieg. »Aber ich muss zugeben, dass der Gefallen, um den der RGS-Sekretär mich gebeten hat, mich verwundert hat.«
George stellte die Kaffeetasse auf den Beistelltisch, verschränkte die Arme und wartete.
»Eigentlich ist es ganz einfach«, sagte Young. »Sobald Captain Scott seinen Vortrag beendet hat und die Möglichkeit besteht, Fragen zu stellen, möchte der Sekretär, dass Sie die Hand heben.«
16
Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen George pünktlich war. Er war seine Frage während der Zugfahrt von Godalming nach London durchgegangen, und obwohl er überzeugt war, die Antwort zu kennen, war er immer noch verwirrt, warum der Sekretär der RGS wollte, dass ausgerechnet er diese Frage stellte.
Enttäuscht hatte George vor einigen Monaten in der Times gelesen, dass ein Amerikaner, Robert Peary, und kein Engländer als Erster den Nordpol erreicht hatte. Aber da der Titel von Captain Scotts Vortrag lautete »Der Südpol ist noch immer nicht erobert«, nahm er an, genau wie Geoffrey Young angedeutet hatte, dass der große Forscher plante, einen zweiten Versuch zu wagen, quasi als Wiedergutmachung.
In Waterloo sprang George aus dem Zug, kaum dass dieser zum Stillstand gekommen war, rannte den Bahnsteig entlang und gab sein Billet ab, ehe er sich auf die Suche nach einer Mietkutsche begab. Young hatte ihn gewarnt, Scott sei so populär, dass die meisten Plätze spätestens eine Stunde vor dem angekündigten Beginn des Vortrags besetzt sein würden.
Vor dem Eingang der RGS hatte sich bereits eine kurze Schlange gebildet, als George seine Einladungskarte vorzeigte. Er mischte sich unter die plaudernde Menge, die sich zum Vortragssaal im Erdgeschoss begab.
Als George den erst kürzlich erbauten Saal betrat, staunte er über die Pracht. Ölgemälde der vorherigen Präsidenten der Royal Geographical Society bedeckten die eichengetäfelten Wände, und auf dem dunklen Parkettfußboden standen schätzungsweise fünfhundert rote Polstersessel, vielleicht sogar mehr. Die erhöhte Bühne an der Stirnseite des Saales wurde von einem lebensgroßen Porträt von König George V. dominiert.
George suchte die Reihen nach Geoffrey Young ab, bis er ihn auf der anderen Seite des Saales neben Finch entdeckte. Rasch bahnte George sich seinen Weg durch die Halle und setzte sich neben Young.
»Ich hätte den Platz nicht mehr sehr viel länger freihalten können«, grinste
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