Berg der Legenden
den Blick von Ruth ab, die immer noch den aufgeschlagenen Reiseführer in der Hand hielt. Sie las nun Passagen daraus vor, während der Rest der Familie aufmerksam zuhörte. George wünschte sich zurück auf den Gipfel eines Berges, selbst wenn das bedeuten würde, dass Finch sein einziger Begleiter war. Bestimmt würden sie eins und eins zusammenzählen, sobald sie ihn erblickten. Doch es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Er trat hinter einer Gruppe bummelnder Touristen hervor, und blieb wenige Schritte vor Mr Turner stehen.
»Guten Morgen, Sir«, sagte George, lüftete seinen Strohhut und versuchte, ein erstauntes Gesicht zu machen. »Was für eine angenehme Überraschung.«
»Nun, für mich ist es auf jeden Fall eine Überraschung, Mr Mallory«, sagte Turner.
»Und eine überaus angenehme«, sagte Marjorie.
»Guten Morgen, Miss Turner«, sagte George und hob erneut den Hut. Während Mildred ihn mit einem schüchternen Lächeln belohnte, las Ruth weiter in ihrem Reiseführer, als sei Georges unerwartetes Erscheinen nichts weiter als eine ärgerlichen Ablenkung.
»Vor den fünf bogenförmigen Portalen des Doms«, las sie vor und hob dabei die Stimme, »liegt die Piazza San Marco, ein riesiger, befestigter Platz, den Napoleon einst den Salon Europas nannte.«
George lächelte sie unbeirrt an, obwohl er sich wie Malvolio vorkam, weil sie, gleich der Olivia, seine Aufmerksamkeit nicht erwiderte. Langsam beschlich ihn das Gefühl, dass seine Reise vergeblich gewesen war und dass er niemals hätte zulassen dürfen, nicht für einen Moment, sich auszumalen … Er würde sich davonstehlen, und sie würden rasch vergessen, dass er überhaupt hier gewesen war.
»Der Glockenturm«, fuhr Ruth fort und blickte auf, »erhebt sich zu einer Höhe von siebenundneunzig Metern. Besucher können die Brustwehr erreichen, indem sie die vierhunderteinundzwanzig Stufen hinaufsteigen.«
George zog erneut, an Mr Turner gewandt, den Hut und wandte sich zum Gehen.
»Meinen Sie, Sie könnten das schaffen, Mr Mallory?«, fragte Ruth.
George zögerte. »Schon möglich«, sagte er und drehte sich zu ihr um. »Allerdings muss man auch die Wetterverhältnisse berücksichtigen. Die Höhenwinde können einen leicht in Schwierigkeiten bringen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum Höhenwinde Ihnen Schwierigkeiten bereiten sollten, wenn Sie doch sicher im Inneren des Turmes sind, Mr Mallory.«
»Ferner, Miss Turner, darf man nie vergessen«, fuhr George fort, »dass die wichtigste Entscheidung bei der Planung einer Besteigung die Auswahl der Route ist. Sie können selten die gerade Route nehmen, und wenn Sie eine falsche Wahl treffen, könnten Sie sich unverrichteter Dinge zum Rückzug gezwungen sehen.«
»Sehr interessant, Mr Mallory«, sagte Ruth.
»Doch wenn sich Ihnen eine direktere Route geradezu aufdrängt, sollten Sie stets bereit sein, diese zu wählen.«
»Ich finde im Baedeker nichts, das auf eine noch direktere Route hinweist«, sagte Ruth.
In diesem Moment beschloss George, dass er, wenn er sie schon verlassen musste, das genausogut mit Stil tun konnte.
»Dann ist es vielleicht an der Zeit, Ihrem Reiseführer ein neues Kapitel hinzuzufügen, Miss Turner.« Ohne ein weiteres Wort legte George Hut und Jackett ab und reichte beides Ruth. Er warf einen weiteren Blick auf den Turm, dann ging er auf den öffentlichen Eingang zu, wo er sich in der Schlange von Touristen einreihte, die darauf warteten, eingelassen zu werden.
Als er das vordere Ende der Schlange erreicht hatte, sprang er auf das Drehkreuz und griff nach dem Torbogen oberhalb des Eingangs. Er zog sich hoch, bis er auf dem Sims stand. Eine Reihe verblüffter Zuschauer, die seine Kletterpartie verfolgten, sahen kurz darauf, wie er sich an der ersten Brüstung festhielt. Er überdachte kurz seinen nächsten Zug. Er musste seinen rechten Fuß auf die Statue eines Heiligen setzen – des heiligen Thomas, wie Mildred bemerkte –, der ein zweifelndes Gesicht machte.
Mr Turner wandte seine Aufmerksamkeit einen Moment von George ab, der sich von Sims zu Sims, von Pfeiler zu Pfeiler vorarbeitete, um seine Töchter zu beobachten. Mildred wirkte fasziniert von Georges Geschicklichkeit, während auf Marjories Gesicht ein ehrfürchtiger Ausdruck lag, doch am meisten überraschte ihn Ruths Reaktion. Ihr Gesicht war leichenblass, und sie schien am ganzen Körper zu beben. Als George wenige Meter vor der Spitze mit dem Fuß abrutschte, glaubte
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