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Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers

Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers

Titel: Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BLV Buchverlag GmbH & Co. KG
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»Philipp/Flamm« mitzubringen. Die Struktur der Felsen schreibt dort eine neue Route zwingend vor. Sie gehört zu einem halben Hundert Erstbegehungsmöglich-keiten, die ich in einem kleinen Heft vermerkt habe, das ich immer bei mir trage. Es ist mir wichtiger als mein Tourenbuch. Es ist mir »heilig«. Nur mein jüngerer Bruder Günther hat Einblick. In dieses Ideenheft notiere ich meine Realutopien. Viele gedachte Routen, mit geschätztem Zeit- und Materialaufwand, den zu erwartenden Schwierigkeiten bei der Erstbegehung.
    Als »ultimative Erstbegehung« ist eine Linie an der Marmolada gezeichnet. Durch die 1000 Meter hohe, durchwegs senkrechte Plattenflucht der Südwand der Marmolada d’Ombretta, rechts der »Via dell’Ideale«, muss ein Weg führen. Ich weiß, er ist möglich. Mir fehlt nur noch die richtige Einstellung zu ihm. Dabei gibt es nicht etwas zu entdecken, sondern alles wieder und wieder zu erfinden. Das Felsklettern steht an einem neuen Anfang. Alles wurde immer wieder erfunden. Nichts und alles war vorher da.
    10.8.1969
    Einstieg in die Eiger-Nordwand. Versuch eines Alleingangs.
    Eine Seilschaft hoch über mir tritt immer wieder Steine los. Nebel auf der Höhe des Zweiten Eisfeldes.
    Fluchtartiger Rückzug.
    16.8.1969
    Am Nachmittag (nach dem Zustieg) klettere ich über die Vinatzer-Führe in der Südwand der Marmolada di Rocca bis zum Band (Wandmitte). Wieder im Alleingang.Die Route kommt mir schwieriger vor als bei den zwei Begehungen in Seilschaft mit meinem Bruder Günther.
    Biwak. Mein zehntes in diesem Jahr.
    17.8.1969
    Erste Begehung (Solo) der Marmolada-di-Rocca-Gipfelwand. Einige Stellen zweimal geklettert. Fast alle Haken belassen. Mein schwierigster Alleingang.
    24.9.1969
    Nach einem Dutzend Erst-und Solobegehungen will ich die Alleinbegehung der Scotoni-Südostwand wagen. »Bergmüde« verzichte ich am Einstieg und klettere die Pisoni-Route in der breiten Wandflucht weiter rechts.
    25.9.1969
    Mein Mathematikbuch ist nicht gebunden. Zu Stapeln von je 20 Blättern liegt es auf meinem Schreibtisch. Es sind zehn oder zwölf. Ich nehme einen dieser Stapel und setze mich auf den Balkon, um zu lernen. Das mit den doppelten Integralen verstehe ich noch. Aber sonst ist mir vieles abhanden gekommen. Am nächsten Morgen suche ich die losen Blätter zusammen und stelle sie dorthin, wo sie den Sommer über waren. Für einen Neuanfang im Studium fehlt mir die Motivation. Einen Sommer lang habe ich Universität, Freundin und meinen Nebenberuf als Bergführer vergessen. Ich genieße die Freiheit dessen, der nichts hat, was er verlieren könnte, außer seiner Begeisterung.
    4./5.10.1969
    Kletterausklang im Kaisergebirge mit meinem Bruder Günther und Walter Troi: Fleischbank-Ostwand, Christaturmkante; Predigtstuhl, Dülfer-Route; Hintere-Goinger-Halt-Nord-grat; Bauernpredigtstuhl, Rittlerkante. Der Schnee in den Dolomiten ist früher gekommen als sonst. Es reicht nicht einmal für einen Versuch an unserer ultimativen Marmolada-Tour. Als kletternder Mensch bin ich sicher und kreativ, solange ich mich in meinem Element bewege. Mein Gleichgewicht, das ununterbrochen verloren sein könnte, muss ununterbrochen zurückgewonnen werden. Mit jedem »Move« (Bewegung einer Hand, eines Fußes usw.) würde ich abstürzen, setzte ich den Instabilitäten nicht (instinktiv oder bewusst) eine Reaktion entgegen.
    Ich ahne nicht, dass meine Kletterzeit mit diesem Sommer 1969 zu Ende ist. Ein halbes Jahr später gehen Günther und ich zusammen zum Nanga Parbat. Unser Ziel ist die Rupalwand, die höchste Fels- und Eisflanke der Erde. Günther kommt dabei ums Leben. Ich verliere ein paar Zehen und alle naiven Gewissheiten.
    Weil wir für nichts eine Antwort gesucht haben, haben wir auch nichts infrage gestellt. Wenn die Objektivität, die Gewissheit, aufhört, haben wir Angst, im Nichts zu verschwinden, das Denken in Kreisen beginnt, das Sowohl-als-Auch wird zwingend. Subjektive und objektive Sicherheiten bröckeln. Nicht nur weil ich 1971 wegen der Amputationen nicht mehr so gut klettern kann wie vorher, streiche ich die Vertikale aus meinen Tagträumen. Auch weil ein Sättigungsgrad erreicht ist. Im Herbst 1969 bin ich ausgebrannt gewesen, klettermüde. Ich gehe auch nach der Tragödie am Nanga Parbat nicht auf die Universität zurück. Ich entscheide mich für die großen Berge. Meine

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