Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
ich merke, dass mein Bruder nicht nachkommt, sehe, höre und spüre ich ihn in meiner Nähe. Trotz meiner Erschöpfung kehre ich zum Wandfuà zurück. Lawinen haben sich zu riesigen Kegeln aufgehäuft. Ich suche, rufe. Obwohl ich später weiÃ, dass er tot ist, suche ich in den Lawinenkegeln eine Nacht lang nach ihm. Es ist, als ob sich Ratio und Emotion in mir widersprächen. Ich rede mit mir selbst, als sei ich zwei Wesen. Die ganze Tragödie erlebe ich jetzt als Zuschauer und Hauptdarsteller zugleich.
1.7.1970
Abstieg über das obere Diamirtal. BarfuÃ. Meine FüÃe sind wegen der Erfrierungen so stark angeschwollen, dass sie nicht mehr in die Schuhe passen. Ich gehe, solange ich gehen kann. Später rutsche ich auf Händen und Knien. Ãfter bleibe ich ohnmächtig liegen. Die Frage nach einem Leben nach dem Tod stellt sich so wenig wie die Gottfrage. Häufiges Rasten wegen totaler Erschöpfung. Ich bin mit unserem Tod einverstanden. Es ist, als sei Günther immer noch hinter mir. Die totale Katastrophe als einzige Hoffnung jetzt. Ohnmachtsanfälle wechseln mit intensivenWachzuständen ab. Ich krieche weiter talwärts.
Ich überquere einen toten Gletscher. Auf der anderen Seite stoÃe ich auf ein paar Holzfäller. Sie bringen mich auf eine Alm, geben mir zu essen, Milch zu trinken. Bauern aus dem Diamirtal tragen mich zu guter Letzt bis zur Bunarbrücke im Industal.
3.7.1970
Nach einer abenteuerlichen Fahrt durchs obere Industal unerwartete Begegnung mit der heimreisenden Expeditionsmannschaft. Alle sind erstaunt, mich lebend zu sehen. Der Leiter und Arzt Dr. Herrligkoffer sagt mir als Erstes, dass ich wegen meiner Erfrierungen nie wieder bergsteigen könne. Es trifft mich weniger als die Tragödie, mit der ich zu leben habe. Sie belastet mich schwer. Monatelang, jahrelang. Die Verantwortung für den Tod meines Bruders habe ich allein zu tragen. Nichts ist rückgängig zu machen.
Sommer 1970
Monatelanger Aufenthalt in der GefäÃabteilung der Innsbrucker Universitätsklinik. Ich schreibe meine Erlebnisse bei der Nanga-Parbat-Expedition nieder, beginne, sie zu rationalisieren. Immer noch das Gefühl, Beobachter und Akteur zugleich gewesen zu sein. Ãfter auch das Gefühl, am FuÃe des Nanga Parbat gestorben zu sein und jetzt mein zweites Leben zu beginnen. DasWissen, dass mein Leben begrenzt ist, gibt ihm eine eindeutige Richtung. Der Tod ist nicht Ziel, aber Angelpunkt des Lebens.
Würde ich nicht sterben, ich würde anders leben. Weil ich sterbe, will ich weiterhin intensiv leben. Meiner Existenz ist kein Sinn vorgegeben. Ich muss ihn selbst finden, auch jetzt.
Aus diesem Wissen wächst mir das Vertrauen zu, meinen am Nanga Parbat eingeschlagenen Weg weitergehen zu können. So bin ich mit der Tragödie gewachsen. Der Tod hilft also, Sinn zu definieren. Wegen der notwendigen Amputationen â die Hälfte meiner Zehen und die Kuppen dreier Finger mussten abgenommen werden-würde ich nicht mehr so gut klettern können wie vorher. Meinem Bruder aber ist nicht geholfen, wenn ich daheimbleibe. So ist der Entschluss, auch in Zukunft jene Abenteuer zu suchen, die mich bis dahin ausgefüllt haben, naheliegend. Ich werde also weiterhin auf Achttausender steigen.
Zudem bin ich immer noch (seit 1968!) ein zerrissenes Kind einer Gesellschaft, die sich sehr wohl fragen muss, welchen Sinn es haben soll, einem ungeliebten Beruf nachzugehen, in einerWelt, die durch rein materialistisches Denken von Tag zu Tag hässlicher wird.
Herbst 1970
Weil ich kein Studienstipendium mehr bekomme und alle meine Ersparnisse für die Nanga-Parbat-Expedition ausgegeben habe, sehe ich mich gezwungen, noch einmal eine Stelle als Mittelschullehrer anzunehmen. Die Versicherungssumme für meine Amputationen wird an Dr. Herrligkoffer ausbezahlt, als Prozesskostenvorschuss einbehalten für die anlaufenden Streitigkeiten.
Alle (Freunde, Familienangehörige, Kollegen) sind sicher, dass ich das Bergsteigen aufgegeben habe. Wer befürchtet, dass ich rückfällig werden könnte, rät mir dringend davon ab.
Natürlich stelle ich mein Tun auch weiterhin infrage, nicht mehr aber, als ich alles Tun infrage stelle. Hätte ich die Tragödie vorausgeahnt, wäre ich nicht zum Nanga Parbat aufgebrochen. Im Nachhinein aber ist sie nicht rückgängig zu machen. Also macht es nun keinen Sinn, meine Begeisterung für das
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