Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
bei Durchgängen im Grenzbereich nicht mehr nur im Kopf. Das ist intuitiv spürbar. Im Ãber- oder Unterbewusstsein sind AuÃen â und Innenwelt vital verknüpft. Das führt den Menschen zu einem naiven Verständnis seines Einsseins mit dem Kosmos. Ob dies nur durch Ausschalten der Ratio möglich ist? In solchen Momenten jedenfalls wird das Ich zum Selbst, und der Tod ist nicht mehr das schreckliche Ende. Danach ist der Tod zwar noch immer der Tod, aber mit anderer Bedeutung.
So sehr ich davon überzeugt bin, dass Grenzgänge die »Eroberung des Nutzlosen« sind, so sehr zweifle ich an der Nützlichkeit allen menschlichen Tuns. Was bringt im Endeffekt der menschlichen Gesellschaft â noch fraglicher, dem Kosmos â Nutzen, was Schaden? Der Sinn ist wichtiger als der Nutzen. Damit möchte ich das Nutzlose relativieren und den Sinn betonen.
Bei der Lektüre des Romans »Die Entdeckung der Langsamkeit« von Sten Na-dolny wird Franklin, der zuletzt mit seiner Mannschaft unterging und verschollen blieb, nicht nur lebendig, als wäre man mit dabei, er wird als Sinnstifter sympathisch. In einem Tun, das auÃerhalb jeder Vernunft angesiedelt ist, das scheinbar jeden Sinn entbehrt, ist er der ruhende Pol, um den sich die Tragödie dreht. Obwohl es am Ende ausschlieÃlich ums Ãberleben geht, liegt der Sinn nicht in der Arterhaltung: »Fähigkeiten, die nicht angewandt sind, existieren nicht.« Die Frage nach dem »Survival of the fittest« ist in diesem Zusammenhang nicht zu stellen.
Die Schizophrenie zum Beispiel kann Ãberlebenshilfe sein. Wenn ein anonymer Er durch das Ich spricht, könnte ich unter gewöhnlichen Umständen daran irre werden. Diese Spaltung meines Geistes aber, in unserem alltäglichen Leben als Krankheit bezeichnet, war mir nicht nur einmal Hilfestellung, ja Voraussetzung, um durchzukommen (Nanga Parbat 1970, Kangchendzönga 1982). Unser Geist also reicht weit über die rein praktischen Sinnfragen im Leben hinaus. Nicht nur einmal bin ich aus einer kaum zu überlebenden Situation durch Halluzinationen gerettet worden. Obwohl mir dabei Hoffnung vorgespielt wurde, für die es keinerlei Berechtigung gab, fühlte ich mich auch hinterher nicht genarrt.
Ich weià heute, dass wir kein unzerstörbares Etwas sind, sondern ein Prozess. Wir sind ein wandelbarer Zustand. Auch deshalb habe ich vor dem Leben ebenso wenig Angst wie vor dem Tod und möchte möglichst uneingeschränkt sein.
Was ich nicht erlebt habe, weià ich nicht. Ich wiederhole: Bergsteigen ist für mich nicht â wenigstens nicht primär â Flucht aus den groÃteils unerträglichen Bedingungen der westlichen Industriegesellschaft; Bergsteigen heiÃt für mich Sinn schöpfen.
Warum geht einer freiwillig in die Grenzbereiche menschlicher Ãberlebensmöglichkeit, an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit, wenn er mehr hat, als er zum Leben braucht? Vielleicht aus denselben Gründen, weshalb jemand überhaupt Leistung sucht: aus Ehrgeiz, Eitelkeit, Lust. Wenn die Grundbedürfnisse des Lebens befriedigt sind, bleibt uns Zeit und Kraft zu spielen, unsere Energien, unsere Ideen, unsere Fähigkeiten auszuspielen. Dafür ernten wir Selbstwertgefühl, Lebenslust und vor allem Sinn.
Man kann einen Menschen nicht lehren, zufrieden zu sein. Man kann Lebensfreude nicht kaufen, obwohl sie überall angeboten wird. Auch Existenzerfahrung wird uns nicht geschenkt. Das alles muss man erleben. Ich kann es am besten in der Wildnis.
Ich bestehe aus Erinnerungen. Mehr noch bestehe ich aus Tagträumen. Vielleicht gelingt es mir deshalb so leicht, schwierige Momente zu vergessen und neuen Grenzgängen Sinn zu geben. Es ist viel mehr das Leben vor mir, das mich packt, als der Tod, den ich wieder einmal hinter mir gelassen habe. Warum ich mich wieder und wieder für Grenzgänge entschieden habe und nicht für gemütliche Abende auf dem Barhocker, hängt auch mit Lebensqualität zusammen.
In groÃer Meereshöhe erlebe ich eine gesteigerte Traumaktivität. Bei langen Märschen werden zurückliegende Ereignisse zu Gefühlen. Es ist, als würde mein Erinnern neu gemischt.
Der FuÃgänger als Traumtänzer, der sein Leben nicht mehr in moralischen MaÃstäben beurteilt, sondern in ästhetischen, und zu schweben glaubt, hat die Kluft zwischen Denken und Tun gekittet, ist ganz da, ganz Sein. So
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