Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
über die teilweise senkrechte Rupalwand absteigen. Wir beschlieÃen, bis in eine Scharte am obersten Ende der Merklrinne abzuklettern. Wir sind ohne Zelt, ohne Biwakausrüstung, ohne Essen.
An der Gratschneide zwischen der Rupalwand (Südwand) und der Diamirflanke (Nordwestwand) biwakieren wir. Ein mörderisches Biwak in 7800 Meter Meereshöhe. Die härteste Nacht meines Lebens!
28.6.1970
Starrvor Kälte und Verzweiflung erlebe ich meine erste »Out-of-body-Erfahrung«. Günther wartet am Biwakplatz, während ich immer wieder an den oberen Rand der Rupalwand gehe, um nach Hilfe zu rufen. Ich denke nur noch an das unmittelbar Machbare. So gelingt es mir, die Todesgefahr, in der wir uns befinden, zu verdrängen. Es ist kalt, windig, die Luft sauerstoffarm. Wir haben keinerlei Schutz. Nicht einmal eine Daunenjacke. Für Bewegung fehlt die Kraft.
Kuen und Scholz kommen auf Sichtweite an uns heran, tun aber so, als ob sie meine Position nicht begreifen würden, und steigen in entgegengesetzter Richtung aufwärts, in der sie kommen müssten, wenn sie uns helfen wollten. Ich weià zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie als zweite Seilschaft zum Gipfel sollen.
Nachdem Hilfe von den anderen in unserer Position nicht mehr zu erwarten ist, gibt es für uns zwei Möglichkeiten: dort oben spätestens in der nächsten Nacht zu erfrieren oder über die Diamirflanke abzusteigen. Dieser Ausweg erscheint flacher als die Aufstiegsroute, und er ist »nur« 4000 Meter hoch.
Nebel ist aufgekommen. In unserer Ausweglosigkeit mache ich mir noch keine Gedanken über den Tod. Handeln müssen wir, egal, ob es richtig ist oder falsch. Das unmittelbar Machbare, der Abstieg über die Diamirflanke, ist zwingend. Es braucht nur einen Willensentschluss. Ich denke nicht daran, dass dieser Abstieg alles andere unmachbar macht.
Das Handicap ist, dass wir die Diamirwand von unten nie gesehen haben. In ihr hängen keine Seile, stehen keine Zelte, keine Lager. Im Tal kein Basecamp. Niemand würde uns unten »auffangen« können. Trotzdem, lieber, als jede Ãberlebenschance zu verspielen, gehen wir den unbekannten, unvorbereiteten Weg. Wir steigen in unsere eigene Verzweiflung ab. Mir ist klar, dass Durchkommen unwahrscheinlicher ist als Umkommen.
Noch krallen wir uns ans Leben. Unter uns schwarzer Abgrund. Gewitterwolken. Mit dem Weiter-Abwärtssteigen, dem Tun also, kommt Hoffnung auf. Irgendein Geist, geboren aus dem Zusammenspiel von Wolkenlöchern, Sonnenstrahlen und Intuition, führt uns durch ein Chaos von Gletscherspalten, Séracs und Abgründen. Manchmal das Gefühl, dass alles eine klare Ordnung hat, dass ich alles schon kenne: die Landschaft, diesen Griff, diese Gefühle. Dann wieder die Erkenntnis, dass nichts mehr lösbar ist, dass die Katastrophe nicht aufzuhalten sein wird.
Günther erholt sich langsam. Mit dem Tieferkommen, dem Eintauchen in sauerstoffreichere Luft, kehren Willenskraft und Trittsicherheit zurück. Freilich muss ich Stück für Stück voraussteigen, um immer wieder einen gangbaren Weg auszukundschaften. Die Abbrüche nehmen nach unten hin zu. Oft finde ich zwischen den 200 Meter hohen, senkrecht stehenden Eisabbrüchen keinen Ausweg.
Also muss ich zurück, wieder aufsteigen, um es weiter links oder rechts zu versuchen. Wenn ich eine Möglichkeit gefunden habe, lotse ich meinen Bruder mit Zeichen und Rufen nach.
Wir denken an vieles, nur nicht an Gott.
Seit zwei Tagen haben wir nichts gegessen und getrunken. Auch nicht geschlafen. Erschöpfung und Trance machen uns benommen.
Unser zweites Biwak beginnen wir erst um Mitternacht, auf einer Felsleiste, 2000 Meter über dem Talboden.
Mit dem ersten Morgenlicht brechen wir auf. Zum weiteren Abstieg. Vertrauen jetzt, dass wir trotz allem durchkommen werden. Trotz der Lawinengefahr von allen Seiten. Im konkaven Gletscherkessel am Wandfuà hetzen wir stundenlang weiter. Wie von Panik getrieben. Viele Spalten. »Wir müssen durch!« â »Jetzt erst recht!« Trotzhaltung. Wieder suche ich nach dem besten Weg. Günther folgt. Ich sehe ihn, als hätte ich auch im Hinterkopf Augen. Ich höre, wie hinter und zwischen uns Lawinen abgehen. Mein Weg führt in eine lawinenfreie Zone. Am Moränenrand hocke ich mich hin. Ich warte auf meinen Bruder. Er muss bald auftauchen. Günther kommt und kommt nicht.
29.6.1970
Halluzinationen narren mich. Als
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