Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
Makan.
Mitten in der Nacht beten die Männer in der benachbarten Hütte zu Allah. Es klingt wie leiser Gesang, an den Mond gerichtet.
10.10.1992
Fahrt nach Daheyen. Kamele und Helfer sind da.
Unsere vier Jeeps und der Truck fahren am Abend zurück. Es dauert lange, bis Ordnung herrscht, bis gekocht werden kann.
Wir wollen von unserer kleinen Oase aus zuerst nach Norden und dann nach Westen, nach Mazar-tagh. Zwanglosigkeit und der Glaube ans Durchkommen haben sich in der Gruppe ausgebreitet. Die Wüste, oder wenigstens deren Rand, ist voller Farben: gelb leuchtend die Büsche der Tamarisken, ocker das dürre Schilfgras, der Sand gelbgrau, das Bachbett salzgesprenkelt. Der Himmel wird am Abend violett. Weià leuchtet später der Mond.
Später Start. Die Kamele kommen zur Tränke. Das Packen dauert drei volle Stunden. Nach 13 Uhr erst brechen wir auf.
11.10.1992
Marsch nach Norden. Es geht zuerst durch Kamisch (Schilfrohr) und an Tograkbäumen (Pappeln) vorbei. Zwei Mann von uns bilden die Nachhut. Die anderen sowie zwei der chinesischen Begleiter gehen voraus. Anfangs in Reih und Glied, später als verlorener Haufen. Wir suchen ein Phantom: die Festung Majianlik.
Wie ein Wunder entdecken sie drei von uns am Abend, als die Kamele schon lange haltgemacht haben. Eine Stunde weit müssen wir zurück, um die anderen Teilnehmer zu finden.
Für die nächsten Tage beschlieÃen wir, nach der Besichtigung von Majianlik, bei den Kamelen zu bleiben. Die Gefahr, ein Mitglied der Gruppe zu verlieren, ist zu groÃ, wenn jeder für sich durch die Wüste läuft.
Zwischen den Sanddünen gibt es Bäume, lebende und tote. Die reine Sandwüste liegt weit hinter dem westlichen Horizont.
12.10.1992
Wiederstarten die Kamele spät. Wir gehen inzwischen, bis auf drei Mann, nochmals nach Majianlik und von dort diagonal zur Route der Kamele. Diese schaffen pro Stunde in Luftlinie maximal 2 Kilometer Wüstenstrecke. Ihre Schlängellinie zwischen den Dünen ist fast doppelt so lang wie die Direktlinie, die ein FuÃgänger zurücklegen könnte. Im rechten Winkel queren wir eine Reihe von Bajiren (Bodeneinsenkungen zwischen Dünen), die von Norden nach Süden verlaufen.
Die Reise durch die Wüste ist recht angenehm: Tagestemperatur etwa +30 °C, Nachttemperatur etwa ±5 °C. Im Hochsommer und Winter sind die Bedingungen härter. Und Sandstürme können lebensgefährlich sein. Sonst aber werden über die »Wüste des Todes« viele Märchen erzählt; nicht selbst erlebte, sondern aufgeblasene »Heldentaten«. Vom Wassermangel abgesehen, ist diese Reise ein Trip, der in eine ruhige, weiche Welt führt und zum Meditieren anregt. Die 30 Kamele und wir 20 Menschen ergeben Geborgenheit. Das Darin-eingebettet-Sein ist nicht nur ein vorgetäuschtes.
13.10.1992
Bis alles gepackt ist, die Kamele loslaufen, ist es Mittag. Wir schaffen noch 12 Luftlinienkilometer bis 18 Uhr, schlagen das Lager auf. Für uns ist das Ganze ein leichter Wüstenspaziergang, für Kamele und Treiber Arbeit.
Die Karawane ist hierarchisch geordnet. Der Karawanenführer, Machmed, ein alter, hagerer Mann, bestimmt alles. Ihm gehorchen Männer und Tiere. Beim Packen gibt er Anordnungen, greift korrigierend dazwischen. Beim Laufen sitzt er meist hoch oben auf seinem hellen Kamelhengst, überblickt alles. Diese Hierarchie ist so selbstverständlich, dass sie niemand infrage stellt. Seine Helfer nicht, die Kamele nicht, auch wir Touristen nicht. Machmed weiÃ, wann die Kamele getränkt werden müssen und wie weit die Vorräte reichen. Seiner Order haben sich alle zu fügen. Seit Jahrzehnten hat niemand daran gezweifelt. Und seine Ausstrahlung wächst mit jedem Marsch durch die Wüste.
14.10.1992
Wüstenmitte. Abwechselnd gehen die Teilnehmer mit dem Kompass voraus und bestimmten die Route. So lernt jeder navigieren, gewinnt an Selbstsicherheit und handelt innovativ. (Der Vorausläufer entscheidet, wie die Dünen umgangen werden.) Inzwischen bin ich sicher, dass wir so viel gemeinsames Selbstverständnis (»Kultur«) entwickelt haben, dass die Gruppe auch in kritischen Situationen bestehen würde. Sie hat keinen Leader und braucht keinen Leader. Ihre »Kultur« reicht aus für das Weiterkommen. Ich bin nur ihr Sprecher.
Nach zeitigem Aufbruch kurze Tagesetappe. Immer wieder schauen die Kamelführer nach einer potenziellen
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