Berger, Frederik - Die Geliebte des Papstes
verloren. Dies wurde ihm nun in einer erschreckenden Klarheit bewußt. Er hatte, bevor er eingesperrt wurde, nie die Schutzmauern und Gebäude, die das ehemalige Grabmal des römischen Kaisers umfaßten, erkundet. Aber eins wußte er: Seilte er sich erfolgreich vom Turm ab, gab es noch einen weiteren Mauerring, von dem er sich herablassen mußte. Aus diesem Grund hatte er sich auch ein zweites Tau um die Brust gebunden.
Flach und schnell atmend, überlegte er, ob er wirklich fliehen und sein Leben riskieren sollte. Irgendwann mußten sie ihn freilassen. Sein Vergehen war gering, die Verleumdungen lächerlich, und seine Mutter würde an der Zwangsmaßnahme gegen ihn auf die Dauer keine Freude finden. Außerdem galt er gewiß unter den jungen Adligen Roms als Held. Und falls der Papst ihn wirklich als Geisel benutzen wollte: Die Auseinandersetzungen mit den Orsini würden ein Ende finden, und dann gab es keinen Vorwand mehr, ihn festzuhalten.
Ein schwacher Wind strich über seinen Hals. Alessandro spürte den Schweiß auf der Haut. Er schaute in die Tiefe, verfolgte den hellen Streifen, der sich im Unbekannten verlor. Es war wie ein Fingerzeig Gottes. Er schaute in den Himmel. Wo standen die Planeten? Beherrschte zur Zeit nicht Merkur die Zwillinge? Eine Zeit des Wandels, des Ausgleichs, der Verbindung? Und die Zwillinge: zwei menschliche Wesen, die zusammengehörten! Er sah wieder die kleine Silvia vor sich. Aber er konnte sie nicht festhalten, denn die geschändete und gemordete Mutter drängte sich vor sie und dann auch die Brust, die von seinem Speer durchbohrt worden war.
Alessandro schaute noch einmal in den Himmel: Das schwache Flimmern der Sterne wollte sich nicht aufhellen. Er prüfte ein letztes Mal die Verknotung des Leinenzeugs. Das Tau mußte halten. Aber trotzdem forderte er das Schicksal heraus. Er begab sich freiwillig in Lebensgefahr. Und wenn es so war: Er trotzte dem Schicksal! Er hielt es nicht länger in der stickigen Zelle aus, er wurde verrückt, ebenso verrückt wie der Kastellan. Um sich abzulenken, hatte er während der letzten Tage sogar die Confessiones gelesen. Groß bist du , o Herr , und hoch zu preisen , groß ist deine Kraft und unermeßlich deine Weisheit ! So begann Augustinus seine Schrift, und er, Alessandro Farnese, würde Gott nicht minder preisen, wenn ER ihn jetzt rettete.
Alessandro atmete tief durch und ließ sich langsam herab. Sofort begriff er, daß er sich während der letzten Wochen zwar häufig an den Balken hochgezogen hatte und seine Armmuskeln noch kräftig waren, aber an Beweglichkeit hatte er trotz der Handstände eingebüßt. Sein Herz schlug bis in den Hals, und er spürte, wie der Allmächtige ihm zusätzliche Kraft einflößte. ›Groß ist deine Kraft und unermeßlich deine Weisheit‹, flüsterte Alessandro, während er sich langsam von Knoten zu Knoten hinabließ.
Plötzlich stank es nach menschlichen Exkrementen, und er spürte festen Boden unter den Füßen. Als er sich an der Wand entlangtastete, scheuchte er Dohlen auf und befürchtete schon, die Wachen könnten aufmerksam werden. Er lauschte, hörte aber nichts mehr außer den Geräuschen, die dumpf aus der Stadt heraufdrangen. Ein Pferd mußte über die Engelsbrücke gehen, er hörte das einsame Klacken der Hufe, dann einen Ruf, und nun meinte er sogar ein Klatschen zu vernehmen, als würde ein größerer Gegenstand in den Tiber geworfen. Dann war es wieder still.
Auf den Knien überquerte Alessandro die Terrasse des Rundbaus. Als er über die Zinnen schaute, glaubte er im Osten schon die ersten Streifen der aufgehenden Sonne heraufziehen zu sehen. Nun galt es nicht mehr zu zögern. Er band das zweite Tau fest. Seine Hände schmerzten. Sie waren feucht, wahrscheinlich von Blut. Aber er achtete nicht weiter darauf. Vorsichtig glitt er die Mauer entlang. Unter sich sah er gar nichts mehr, Schwärze umfing ihn wie im Grab. Zum Glück stieß er immer wieder auf Löcher im Mauerwerk, in die er seinen Fuß setzen konnte, um so einen Augenblick auszuruhen. Häufig scheuchte er dabei Vögel auf, die nach ihm hackten oder lärmend aufflogen. Also ließ er sich weiter ab, und je mehr das Tau zu schwanken begann, desto schneller. Es schnitt ihm tief in die Handflächen, und seine Kräfte erlahmten. Und dann hing er plötzlich in der Luft. Die Füße berührten das Tau nicht mehr. Er versuchte innezuhalten, einen Halt oder ein Loch in der Wand zu suchen, aber er glitt unaufhaltsam weiter. Der letzte Knoten im
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