Berger, Frederik - Die Geliebte des Papstes
Tau! Und nun? Seine Beine hingen in der Luft. Wie viele Klafter noch bis zum Boden? Hieß es jetzt, dem Herrn, dessen Hilfe er beanspruchte, zu vertrauen und sich in die Tiefe fallen zu lassen?
In diesem Augenblick durchschoß ihn die Todesangst wie ein glühender Strahl. Seine Arme verhärteten sich, und er zog sich ein Stückchen hoch. Seine Füße suchten fieberhaft eine Öffnung in der Wand oder einen vorstehenden Mauerstein. Ohne zusätzlichen Halt würde er hinabstürzen und zerschmettert auf den Steinen liegenbleiben. Er hatte zu früh die Geduld verloren, er hatte Gott herausgefordert, und Gott entzog ihm seine Gnade. ER ließ ihn einfach fallen.
Aber nun fand sein rechter Fuß doch einen Halt. Alessandro zog sich an die Mauer, soweit dies möglich war, und versuchte, langsam und vorsichtig, auch mit dem linken Fuß einen Halt zu finden. Doch ein leichter Luftzug ließ seinen Körper sich drehen, und nun drohte er wieder abzustürzen.
Bevor er fiel, rasten Bilder an seinem Auge vorbei, von Gedankenfetzen durchbrochen, von Gefühlen unterlegt. Es war, als stürze sein gesamtes bisheriges Leben an ihm vorbei in einen tiefen Brunnen. Das Leben war mit einem Tau an ihn gebunden und würde ihn zum Schluß mitreißen. Er galoppierte mit seinem Vater durch die heimatlichen Olivenhaine, er sprach seine erste Beichte, er hörte das höhnische Lachen seines Lehrers, der sich über den christlichen Glauben lustig machte, und wie ein Feuer zog das schöne, herrschsüchtige Gesicht seiner Mutter vorbei. Aber dann umfing ihn Giulia, und neben Giulia lag Silvia, wie er sie gerettet hatte. Neben Silvia starrte ihn jedoch die durchbohrte Brust eines Mannes an wie das Auge des Polyphem.
Sein Fuß rutschte von dem Mauervorsprung. O Herr, allmächtiger Vater, der Du bist im Himmel, ich bin des Todes, wenn Du mir nicht hilfst, ich bin Dein unwürdiger Sohn, ich rufe zu Dir aus tiefster Not, verlaß mich nicht, ich verspreche Dir, ich werde Dir dienen, wenn Du mich rettest …
Endgültig verließen Alessandro die Kräfte, und er fiel. Bevor er einen Schrei ausstoßen konnte, landete er auf einem schrägen Ziegeldach, rutschte unter Getöse weiter nach unten, versuchte sich irgendwo festzuhalten, aber es gelang ihm nicht, und er fiel erneut.
Ein Wunder geschah. Er landete auf einem Haufen alter Kleider, dem eine ganze Armee von Ungeziefer entstob. Vom Dach rutschte noch eine einzige Schindel herab und zerschellte neben ihm.
Alessandro lauschte.
Scharren von Pferdehufen, Geraschel, Klirren von Ketten, ein dumpfer Schlag gegen eine Holzwand. Sonst Stille. Er mußte auf einen Pferdestall gefallen sein. Kein aufgeregtes Rufen, keine herbeieilenden Wachen, nichts, nur leises Schnauben. Und dann trat vollkommene Stille ein. Als würde die Ewige Stadt den Atem anhalten, schienen alle Geräusche verschwunden zu sein. Schließlich ein einzelner Ruf. Und wieder Stille. Als hätte sich ein schwarzes Leichentuch über die Stadt gelegt.
Vorsichtig bewegte Alessandro seine Füße und Beine. Er spürte einen leichten Schmerz im linken Knöchel. Er versuchte sich zu erheben. Es gelang ihm ohne weiteres. Der Triumph, der ihn durchfuhr, ließ ihn nicht auf den Schmerz im Steiß achten, ließ ihn die Gefahr vergessen, der er noch keineswegs entronnen war.
Er drang in den Stall ein, um sich eins der Pferde zu holen. Beruhigend sprach er auf die Tiere ein, strich ihnen über die Nüstern, tätschelte ihren Hals. Das freundlichste Pferd band er los und zog es vorsichtig am Halfter nach draußen. Es wieherte leise und folgte ihm. Er schaute nach links und rechts. Niemand war zu sehen oder zu hören. Hinter ihm die Mauer, unter ihm das Pflaster. Das einzige, was er nun hörte, war das leise Rauschen des Tibers. Er mußte das Pferd von der Engelsbrücke den Fluß hinauf zum Porto di Ripetta lenken. Auf der Brücke dösten Wachen, und gegenüber der Burg, am Torre di Nona, lungerten sie ebenfalls herum. Er mußte sich am kleinen Hafen übersetzen lassen.
Inzwischen dämmerte der Morgen, denn er sah die Pflastersteine, die vom abendlichen Regen glänzten. Langsam zog er das Pferd ein Stück weiter. Als noch immer niemand auf ihn aufmerksam geworden war, wollte er losreiten. Aber besaß er noch genügend Kraft, um sich auch ohne Steigbügel auf den Rücken des Pferdes zu schwingen? Ohne Sattel war er schon häufig geritten, in seiner Kindheit fast ausschließlich. Er nahm alle Kraft zusammen, griff in die Mähne des Pferdes und schwang sich hoch.
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