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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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Morgenstunden des 13. August in alle Winkel der DDR und der ganzen Welt übermitteln wollte. Er würde der »systematischen Bürgerkriegsvorbereitung durch die Adenauer-Regierung gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik« die Schuld für seine Aktion geben. Er habe sich gezwungen gesehen, die »Wühltätigkeit der westdeutschen und Westberliner Militaristen und Revanchisten« zu unterbinden. Laut Erklärung lagen die Maßnahmen zur Grenzschließung »im Interesse des Friedens und der Sicherheit unseres Arbeiter- und Bauernstaates und unserer friedliebenden Bevölkerung«. 7
    Von da an war es Ostdeutschen nur noch mit einer vom Innenministerium ausgestellten Sondergenehmigung erlaubt, Westberlin zu betreten. Nach einer Frist von zehn Tagen sollte es Westberlinern wiederum erlaubt werden, Ostberlin zu besuchen.
    Ulbricht hatte nicht das kleinste Detail übersehen. Die Mitarbeiter, die ihn am besten kannten, hatten ihn selten so ruhig und gelassen erlebt.
    SOWJETISCHE BOTSCHAFT, OSTBERLIN
MITTWOCH, 9. AUGUST 1961, NACHMITTAGS
    Emotionslos ging Ulbricht mit dem sowjetischen Botschafter Perwuchin die letzten Vorbereitungen durch. »Genosse Zelle«, wie Ulbricht wegen seines organisatorischen Talents in jungen Jahren genannt wurde, war in seinem Element.
Er sprach ohne Notizen, weil er jeden Aspekt der Aktion in seinem legendären Gedächtnis verankert hatte. Ungeachtet der vielen Teile der laufenden Operation sah er immer noch kein Indiz dafür, dass westliche Geheimdienste entweder ahnten, was in Kürze passieren würde, oder Gegenmaßnahmen planten. Perwuchin würde Chruschtschow melden, dass die Operation nach dem vereinbarten Zeitplan fortgeführt werden könnte. 8
    Chruschtschow nahm die Nachricht resigniert und entschlossen zugleich auf. Der Flüchtlingsstrom hatte die gigantischen Ausmaße von zehntausend Flüchtlingen pro Woche und über zweitausend Personen an manchen Tagen angenommen. Der sowjetische Führer erinnerte sich später noch gut daran, dass er sich den Kopf zerbrach, wie es weitergehen sollte. »Die DDR hatte es mit einem Feind zu tun, der wirtschaftlich sehr leistungsfähig war und daher bei den Bürgern der DDR großen Anklang fand. Westdeutschland war für die Ostdeutschen umso verlockender, als sie alle dieselbe Sprache sprachen. […] Die Folge war eine Abwanderung von Arbeitskräften aus der DDR, der es ohnehin an einfachen Arbeitskräften – von Fachkräften ganz zu schweigen – fehlte. Dadurch entstand eine geradezu katastrophale Situation. Wäre es noch lange in dieser Weise weitergegangen, die Folgen hätten sich nicht absehen lassen.«
    Der Parteichef hatte die Wahl zwischen einer Aktion, die dem Ansehen des Kommunismus schaden würde, und einer Tatenlosigkeit, die unter Umständen den Zusammenbruch seiner westlichen Front zur Folge hatte. »Ich habe viel Zeit darauf verwendet, nach einem Ausweg zu suchen. Wie konnten wir den Kräften entgegenwirken, die so viele junge Ostdeutsche zur Übersiedlung nach Westdeutschland verlockten? Man musste den jungen Leuten einen Anreiz bieten, in der DDR zu bleiben.«
    Er wusste wohl, dass Kritiker »insbesondere in den bürgerlichen Gesellschaften« behaupten würden, die Sowjets hätten ostdeutsche Bürger »gegen ihren Willen« eingeschlossen. Manche Leute würden gar spotten, »die Ostdeutschen wären im Paradies eingesperrt und die Pforten des sozialistischen Paradieses würden von Truppen bewacht«. Aber Chruschtschow war zu dem Schluss gelangt, dass die Schließung der Grenze »ein notwendiger und nur zeitweiliger Mangel« war. Immerhin war sich der sowjetische Führer sicher, dass die ganze Aufregung unnötig gewesen wäre, wenn die DDR »jetzt schon voll und ganz über das moralische und materielle Potenzial verfügen [könnte], das eines Tages von der Diktatur der Werktätigen nutzbar gemacht werden wird«.

    Doch das war Utopie, und Chruschtschow musste sich mit der Realität auseinandersetzen.
    Er war sich darüber im Klaren, dass die DDR, wie auch die anderen osteuropäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion, »in ihrer moralischen und materiellen Entwicklung noch nicht jenes Niveau erreicht [hatte], das einen Wettbewerb mit dem Westen gestatten würde«. 9 Er musste den Fakten ins Gesicht sehen: Angesichts der überwältigenden materiellen Überlegenheit der Bundesrepublik gab es keine Möglichkeit, die ostdeutsche Wirtschaftsleistung so schnell zu steigern, dass der Strom der Flüchtlinge aufgehalten und der Zusammenbruch des

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