Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
wusste, dass die Grenzpolizisten aufgrund eines Befehls verpflichtet waren, auf flüchtende Landsleute zu schießen und dabei notfalls auch deren Tod in Kauf zu nehmen, war er sich sicher, dass sie so etwas bei einem US-Diplomaten, der ihren Sektor betreten wollte, nicht wagen würden. Immerhin wäre dies ein kriegerischer Akt gewesen.
»Hören Sie«, sagte Lightner zu dem Polizisten, der immer noch neben seinem Auto stand, »es tut mir leid, aber ich mache jetzt Gebrauch von dem Recht der Alliierten, alle Sektoren von Berlin betreten zu dürfen.« 11
Er ließ den Motor aufheulen.
»Machen Sie Platz! Wir fahren jetzt durch!«
Lightner gab Gas und zwang einige Grenzpolizisten, die vor dem Wagen standen, zur Seite zu springen. Allerdings konnte der VW nur ganz langsam um die Betonsperre herumkurven, sodass die hinterherhetzenden Grenzbeamten ihn bald eingeholt hatten und zum Anhalten zwangen. Dann umringten sie das Auto.
Einer schrie wütend: »Sie können hier bis zum Morgen warten, dass ein Russe auftaucht! Falls überhaupt einer kommt!«
Im Hintergrund begann Clay gleichzeitig eine militärische Reaktion in Gang zu setzen. Er befahl einem Zug der 2. Kampfgruppe, von der McNair-Kaserne in Lichterfelde mit zwei leichten Schützenpanzern die 16 Kilometer zum »Checkpoint Charlie«, wie der Übergang Friedrichstraße inoffiziell genannt wurde, hinüberzufahren. Vier M-48-Panzer, die mit schwerem Räumgerät ausgestattet waren, folgten ihnen unmittelbar als Deckung und Verstärkung. Um die Operation zu leiten, hatten sich Clay und der US-Stadtkommandant von Berlin, General Watson, in das als »Bunker« bekannte Operationszentrum
für den Ernstfall zurückgezogen, das genau für ein solches Ereignis im Keller des US-Konsulats in der Clayallee eingerichtet worden war. Obwohl es ursprünglich im Jahr 1936 als Sitz des Luftgaukommandos III der Luftwaffe des Dritten Reichs gebaut worden war, hatte das Gebäude Clay bereits während der Berliner Luftbrücke als Hauptquartier gedient. Jetzt würde es eine weitere wichtige Rolle spielen.
Unterdessen beobachtete der US-Kommandant der Militärpolizei, Oberstleutnant Robert Sabolyk, mit dem Feldstecher die Vorgänge am Checkpoint Charlie von seiner hölzernen weißen Militärpolizeibaracke aus, die etwa 100 Meter von den Geschehnissen entfernt lag. Er hatte den Befehl bekommen, die Lage unter Kontrolle zu halten, bis Verstärkung eintreffen würde. Jetzt sprang der ehemalige Collegeboxer in seinen Stabswagen, gab Gas, kurvte um die erste Barriere herum, dann in weitem Bogen um die zweite und hielt schließlich direkt hinter Lightners Volkswagen mit quietschenden Bremsen an. Dabei hätte er beinahe die in schwarzen Stiefeln steckenden Beine einiger Grenzpolizisten amputiert, die beiseitespringen mussten und nun heftig protestierten.
Etwa zur gleichen Zeit rumpelten vier amerikanische Panzer bis zu der durch einen dicken weißen Farbstreifen markierten Grenzlinie zwischen West-und Ostberlin vor. 12 Ein weiterer Militärpolizist rannte von der Kommandobaracke zu Dorothy Lightners Autotür hinüber und bat sie höflich, den stecken gebliebenen VW zu verlassen. Sie weigerte sich jedoch, von der Seite ihres Mannes zu weichen.
Der Militärpolizist ging zu seiner Baracke zurück, nur um einige Minuten später wiederzukommen. »Es tut mir leid, aber General Clay befiehlt Mrs Lightner auszusteigen«, sagte er mit lauter Stimme.
Danach beugte er sich zu ihrem Mann hinunter und flüsterte ihm zu: »Wir beabsichtigen eine Operation, in die wir Mrs Lightner lieber nicht hineinziehen wollen.«
Sobald der Militärpolizist sie in den Westen zurückgeführt hatte, pflanzten zwei Infanterietrupps von je vier Mann ihre Bajonette auf ihre M-14-Gewehre auf und bezogen auf beiden Seiten der Friedrichstraße Stellung. Als sie sahen, dass außerdem noch vier US-Panzer ihre Kanonen direkt auf sie gerichtet hatten, wichen die Grenzpolizisten zurück. Lightner schaltete in den ersten Gang und fuhr ganz langsam an, während ihn die beiden Infanterietrupps links und rechts flankierten. Nachdem sie die letzte Betonbarriere passiert und damit erfolgreich das DDR-Gebiet betreten hatten, fragte der Zugführer Lightner, ob sie hier anhalten sollten.
»Nein«, antwortete der Diplomat.
Zum ersten Mal seit dem Krieg war eine voll bewaffnete, kampfbereite Infanterieeinheit der US-Besatzungstruppen in den sowjetischen Sektor einmarschiert. Um das für alle Alliierten weiterhin geltende Recht auf freie
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