Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte von Franz Biberkopf (German Edition)
fahren zu können, denn hinfahren könnten sie, falls sie wirklich bettlägerig sind, keinesfalls. Im Renaissancetheater bestehen nach zuverlässigen Informationen keinerlei Vorkehrungen für die Aufnahme von Krankenbetten, die etwa durch Krankenwagen hier vorübergehend abgestellt werden.
Gar nicht außer acht zu lassen ist weiter der Hinweis: es könnte Menschen in Berlin geben und gibt es zweifellos auch, die das Plakat des Renaissancetheaters lesen, aber an seiner Wahrheit zweifeln, nicht an der Wahrheit des Vorhandenseins des Plakats, sondern an der Wahrheit, auch Wichtigkeit seines durch Drucktypen wiedergegebenen Inhalts. Sie könnten mit Unbehagen, mit Mißgefühl und Widerstreben, vielleicht mit Ärger dort lesen die Feststellung, daß die Komödie »Cœur-Bube« eine reizende Komödie ist, wen reizt sie, was reizt sie, womit reizt sie, wie kommt man dazu, mich zu reizen, ich habe nicht nötig, mich reizen zu lassen. Es könnte ihnen die Lippen streng zusammenziehen, daß sich in dieser Komödie anmutiger Humor mit tieferem Sinn vereinigt. Sie wollen anmutigen Humor nicht, ihre Lebenshaltung ist ernst, ihre Gesinnung ist betrübt, aber hoheitsvoll, es sind einige Trauerfälle in ihrer Verwandtschaft vorgekommen. Sie lassen sich auch nicht übertölpeln durch den Hinweis, daß ja tieferer Sinn mit dem bedauerlich anmutigen Humor verbunden ist. Denn nach ihrer Meinung kann eine Unschädlichmachung, Neutralisierung des anmutigen Humors überhaupt nicht stattfinden. Tieferer Sinn muß allemal allein dastehen. Anmutiger Humor ist zu beseitigen, wie Karthago von den Römern beseitigt wurde oder andere Städte auf andere Weise, auf die sie sich nicht mehr besinnen können. Manche Leute glauben überhaupt nicht an den tieferen Sinn, der in dem Stück »Cœur-Bube« steckt, das von den Litfaßsäulen angepriesen wird. Ein tieferer Sinn: warum ein tieferer und kein tiefer? Soll tieferer tiefer sein als tief? So zanken diese.
Es liegt auf der Hand: in einer großen Stadt wie Berlin bezweifeln, bemängeln, bekritteln viele Menschen vieles und so auch Wort für Wort des vom Direktor für teures Geld angebrachten Plakats. Sie wollen überhaupt nichts wissen vom Theater. Und selbst wenn sie es nicht bemäkeln und selbst wenn sie das Theater lieben, und besonders das Renaissancetheater in der Hardenbergstraße, und wenn sie sogar zugeben, daß in diesem Stück eine Vereinigung von anmutigem Humor mit tieferem Sinn stattfindet, so wollen sie daran nicht teilnehmen, denn sie haben einfach heute abend was anderes vor. Damit würde die Zahl der Menschen, die nach der Hardenbergstraße strömen werden und etwa Parallelaufführungen des Stückes »Cœur-Bube« in Nachbarsälen erzwingen könnten, sehr zusammenschmelzen.
Wir kehren nach diesem lehrreichen Exkurs über öffentliche und private Ereignisse in Berlin, Juni 1928, wieder zu Franz Biberkopf, Reinhold und seiner Mädchenplage zurück. Es ist anzunehmen, daß auch für diese Mitteilungen nur ein kleiner Interessentenkreis vorhanden ist. Wir wollen die Ursachen davon nicht erörtern. Aber das soll mich meinerseits nicht abhalten, ruhig den Spuren meines kleinen Menschen in Berlin, Zentrum und Osten, zu folgen, es tut eben jeder, was er für nötig hält.
Franz hat einen verheerenden Entschluß gefaßt.
Er merkt nicht, daß er sich in die Brennesseln setzt
Es ging dem Reinhold nicht gut nach dem Gespräch mit Franz Biberkopf. Reinhold war es nicht gegeben, wenigstens bis jetzt nicht, derb gegen Weiber zu sein, wie Franz. Ihm mußte da immer einer helfen und jetzt saß er auf dem Trocknen. Die Mädels waren hinter ihm her, die Trude, die noch bei ihm war, die letzte Cilly und die vorletzte, deren Namen er schon vergessen hatte. Alle spionierten sie um ihn, teils ängstlich besorgt (letzte Garnitur), teils rachsüchtig (vorletzte Garnitur), teils neu liebessüchtig (drittletzte Garnitur). Die allerneuste, die am Horizont war, eine gewisse Nelly aus der Zentralmarkthalle, eine Witwe, war sofort um- und abgefallen, als nacheinander die Trude, die Cilly und schließlich sogar als Eideszeuge ein Mann, ein gewisser Franz Biberkopf, selbst Freund von Reinhold, bei ihr erschien und sie warnte. Ja, das tat Franz Biberkopf. »Frau Labschinksy – so hieß natürlich Nelly –, ich tu das nicht, daß ich bei Sie komme, um meinen Freund, oder wer es ist, schlechtzumachen. Das beileibe nicht. Ich misch mich absolut nich in andere Leute ihre schmutzige Wäsche. Nanu, aber was recht
Weitere Kostenlose Bücher