Berlin blutrot
natürlich. Ich selbst habe die Anweisung dazu erteilt.“’
Jetzt musste er sich doch ein Lachen verkneifen und vergaß für den Moment die Sorge um Kron Hinterlassenschaft. Herausfinden zu lassen, was er selbst bereits wusste – das war allerdings eine hervorragende Tarnung gewesen.
Kron hatte an diesem Montag behauptet, das ganze Wochenende lang besorgt die Reuters-Meldungen verfolgt zu haben. Deshalb habe er sich auch gleich nach dem Hochfahren seines
Bürocomputers auf den Stand gebracht und, wie er sich ausdrückte, „in Echtzeit“ von der Insolvenz erfahren. Typisch Kron. Den Mut, jemanden aus dem Wochenende zu holen, brachte er natürlich nicht auf. Doch kaum war die Meldung über den Ticker gegangen, informierte er, wen er nur konnte. Auch ihn, Wartensteiner, den die Nachricht freilich nicht überraschen konnte. Denn Whitman, der im Aufsichtsrat der Partnerbank saß, hatte ihn bei ihrem Treffen in Frankfurt längst über den bevorstehenden Insolvenzantrag informiert.
„Danke für Ihre Mitarbeit“, sagte der Journalist und beendete früher, als Wartensteiner es erwartet hatte, das Gespräch. An die Presse war Kron also nicht herangetreten, sonst hätten sie weitere Fragen gehabt. Erleichtert genoss Wartensteiner für einen Augenblick die Erinnerung an die Ereignisse jenes Montagmorgens. Natürlich musste er unverzüglich fällige Zahlungen herausfinden und stoppen lassen – sonst wäre sofort ein Verdacht auf ihn gefallen. Er machte Druck, schrie, tat so, als wolle er den Millionenverlust in letzter Sekunde verhindern, und konnte sich doch sicher sein, dass alle Anstrengungen zu spät kamen.
Beinahe sicher. Das Rechnungswesen hatte die fällige Zahlung auf ihre Plausibilität geprüft und freigegeben. Gegen halb neun erreichte der Auftrag das kontoführende Institut. Dann jedoch gab es, wie Wartensteiner erst im nachhinein erfahren sollte, ein Problem: Das Konto wies die erforderliche Deckung nicht auf, und der Auftrag wurde zurückgewiesen.
Der Kellner brachte ein kleines Tablett mit Espresso, Wasserglas und Zuckertütchen. Wartensteiner nahm eines der Tütchen, schüttelte es und ließ die Kristalle in die Tasse rieseln. Sie ruhten einige Sekunden lang auf der Crema und sanken dann abrupt zu Boden. Genau so, dachte er, war es auch an jenem Morgen im September gewesen: ein Augenblick der Verzögerung, dann versank das schöne Geld im schwarzen Loch der Insolvenz. Denn ein argloser Sachbearbeiter hatte das Guthaben routinemäßig erhöht. Damit war das Konto schon Minuten später wieder gedeckt, die Zahlung konnte erfolgen, und mit der stillen Eleganz eines technischen Vorgangs nahmen die Dinge ihren Lauf. Meinen business angel nannte Wartensteiner den armen Tropf, dessen blindes Systemvertrauen seinen maliziösen Plan vor dem Scheitern bewahrt hatte.
Alles weitere verlief so herrlich reibungslos und still, dass es geradezu unwirklich war: Das Swift-System verbuchte den Eingang, die Gutschrift wurde erstellt, was ausblieb, war die Gegenzahlung. Viele hundert Millionen Euro verschwanden für immer. SWIFT: Society for Worldwide Financial Telecommunication, zoologisch: der Segler, als Adjektiv: flink, flüchtig. Ein gut funktionierendes System, zuverlässig, keine Chance auf Rückzahlung. Die Daten werden effizient übertragen. Nur ein Tastendruck und das Geld ist weg, unwiderruflich.
Wartensteiner sah sich im Kaffeehaus um. Plötzlich war er der einzige Gast. Nicht nur der Journalist hatte das Lokal verlassen, auch eine Reisegruppe, die eben noch angeregt plauderte, war verschwunden. Er zog seinen Regenmantel beiseite, um freie Sicht durch die hohe Schiebetür zu bekommen, die ihn vom vorderen Bereich des Lokals trennte. Auch dort war niemand zu sehen, nicht einmal das Personal. Er stand auf und ging zur Eingangstür. Unter den Linden, wo die Kellner an Sonnentagen die Straße überquerten, um den Pavillon auf dem Mittelstreifen zu versorgen, schüttete der Regen immer stärker herab. Die Lichter der Autos spiegelten sich auf dem nassen Asphalt. Wartensteiner meinte, das Zucken von Blaulichtern zu erkennen und sah, wie in der Nähe des Lokals Absperrgitter aufgestellt wurden. Er musste dringend Schröder anrufen, um Details über Krons Ableben in Erfahrung zu bringen. War es Kron gelungen, einen Anfangsverdacht gegen ihn einzufädeln? Rückte da draußen die Polizei an, ausgerechnet jetzt, wo Whitman in jeder Minute auftauchen konnte?
Zügig ging er zu seinem Platz zurück. Auch hier, direkt vor
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