Berlin blutrot
seinem Fenster, auf der Höhe der bordeauxfarbenen Samtvorhänge, wurden Absperrungen aufgestellt. In der Neustädtischen
Kirchstraße, direkt gegenüber dem Lokal, parkte ein vergitterter Mannschaftswagen der Polizei. Jetzt nur nicht verrückt werden, dachte Wartensteiner. Seit wann betreibt die Polizei einen solchen Aufwand, um einen Banker zu verhaften? Er verrenkte sich den Hals und versuchte, hinter der verregneten Scheibe etwas zu erkennen, rutschte in eine andere Sitzposition und bemerkte, dass seine Hose auf dem Lederpolster festklebte. Dann erkannte er zwei Männer in Zivil, die in seine Richtung blickten. Wo zum Teufel lag die Schwachstelle? Was hatte Kron gegen ihn in der Hand gehabt? Wartensteiner versuchte sich zu konzentrieren.
Kron hatte also die Nachricht von der Insolvenz verschickt. Im Zuge seiner Entlassung war bereits geprüft worden, wann Wartensteiner diese E-Mail auf seinem Bürorechner gelesen hatte. Natürlich war er nicht so blöd gewesen, die Nachricht frühzeitig auf dem Rechner zu öffnen. Deshalb konnte man ihm keine Kenntnis der Insolvenz vor Fälligkeit der Zahlung nachweisen. Aber Kron hatte eine Kopie der Mail an sein Blackberry geschickt, die er sofort nach Erhalt las. Das Blackberry erzeugte eine automatische Lesebestätigung, die Wartensteiner vor der Räumung seines Büros heimlich von Krons Rechner entfernt hatte. Was aber, wenn Kron bereits zuvor eine Sicherheitskopie seines Mailprogramms erstellt und diese dann der Staatsanwaltschaft zugespielt hatte …
Er griff nach seinem Mobiltelefon und wählte Schröders Nummer. Niemand nahm ab. Ob sie Schröder bereits befragten? War Kron am Ende gerissen genug gewesen, Schröder gegen ihn in Stellung zu bringen? Konnte er Schröder noch trauen? Im Licht der matten Kugelleuchten glänzte Wartensteiners Stirn. Er starrte auf die Spiegel, die über den Sitzbänken angebracht waren. Er sah schlecht aus.
Die Schiebetür war jetzt zugezogen; mattes Glas verwehrte die Sicht in den vorderen Bereich. Er griff zur Espressotasse. Die Crema hatte sich wieder geschlossen, dünner zwar als zuvor, aber das bittersüße Gebräu war weiterhin unter einer karamellbraunen Schicht vorborgen. Wartensteiner schloss die Augen und zog die kleine Tasse unter seine Nase. Der belebende Duft kitzelte wohltuend. Wenn sie gleich hier hereinkamen und ihre Fragen stellten, würde ihm jedes Detail präsent sein. Er nahm einen kräftigen Schluck, öffnete die Augen wieder und sah, wie sich die Schiebetür bewegte.
Sofort erkannte er die beiden Männer, die neben dem Mannschaftswagen gestanden und ihn durch die verregnete Scheibe beobachtet hatten. Panik erfasste ihn. Ein Fluchtimpuls, unwiderstehlich stark, verhinderte jetzt jeden klaren Gedanken.
Mit einem Ruck erhob er sich und griff nach seinem Mantel. Seine Knie stießen gegen die Marmorplatte unter der weißen Tischdecke, das Wasserglas kippte um, beinahe wäre Wartensteiner vornüber gefallen.
In diesem Moment klingelte sein Mobiltelefon. Der Klingelton kam ihm albern und peinlich vor. Wartensteiner sank wieder zurück auf seinen Platz und klopfte die Sitzbank mit der linken Hand ab, um das Telefon zu finden. Als er es ans Ohr hielt, blickte er auf die beiden Männer, die nun den Raum betreten hatten. Ausdruckslos sahen sie zu ihm herüber.
„Wartensteiner?“, meldete er sich am Telefon. Es war Schröder. Kron habe einen Abschiedsbrief hinterlassen.
Ein scharfer, hoher Pfeifton stieg in Wartensteiners Ohr auf. Er verstand nicht mehr, was Schröder sagte, die beiden Männer kamen näher, der Ton in seinem Ohr wurde schriller, er dachte:
Es ist vorbei.
In diesem Augenblick betrat Whitman den Raum. Als er sah, dass Wartensteiner telefonierte, blieb er im Eingangsbereich stehen und signalisierte durch eine Geste, dass er das Gespräch in Ruhe beenden solle.
Wartensteiner nickte Whitman zu, versuchte, die beiden Männer, die ebenfalls innehielten, im Blick zu behalten, und drückte das Telefon an sein Ohr. Verwirrt stellte er fest, dass das Geräusch verschwunden war.
„Hat er eine Diskette beigefügt?“, fragte Wartensteiner mit leiser Stimme.
„Was für eine Diskette? Hörst Du mir nicht zu? Ein Schuldeingeständnis, weiter nichts. Sentimentales Zeug: Er habe versagt, sei für das schlechte Risikomanagement verantwortlich und so weiter und so weiter.“
Wartensteiner konnte es nicht fassen. Kron hatte das Gerede von Anstand und Verantwortlichkeit tatsächlich ernst genommen. Ein Erbsenzähler
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