Berlin blutrot
blutroter Aufschrift: „London By Night!“
Die Nachricht auf der Rückseite war denkbar knapp.
„Abi-Scherz“ war dort zu lesen; in gestochen scharfen Druckbuchstaben.
1Hot Shot
Andrea Vanoni
Eine knappe Stunde später waren sie bei ihr zu Hause und vögelten auf der amerikanischen Küchentheke. Dort stand eine Schale mit frischem Obst und noch die geöffnete Packung Cornflakes vom Frühstück. Die landeten bald verstreut auf dem Boden.
Es war der heißeste, wildeste Sex, den sie seit langem hatte. Seit sechzehn Jahren war Sex in ihrer Ehe aufs Bett beschränkt. Noch nie war Tatjana mit einem so hungrigen Mann zusammen gewesen. Die Tatsache, dass er viel zu jung war und sie so gut wie keine Gemeinsamkeiten hatten, machte ihn nur noch attraktiver, reduzierte ihn auf ein reines Lustobjekt.
Als auch die Obstschale mit den Äpfeln herunterfiel, hielten sie einen Moment inne. Später wälzten sie sich auf dem kalten Marmorboden des Wohnzimmers vor dem Kamin, auf dem die Familienfotos in Silberrahmen wie Soldaten in einer Reihe standen. Ferien in Usedom: Tatjana mit den Mädchen im Strandkorb, alle drei trugen rot-weiß gestreifte Bikinis; die Gartenparty zu Stefans vierzigstem Geburtstag; die ersten Schultage von Milena und Lisa; ihre Gondelfahrt in Venedig zum zehnten Hochzeitstag; das Abschiedsfest mit Stefans
Eltern, bevor sie nach Spanien auswanderten.
Fordernd küsste sie seine Lippen, strich ihm das Haar aus dem Gesicht, sagte immer wieder, wie geil er sei. Wie scharf sie auf ihn sei. Sie lockte ihn ins Schlafzimmer, ja, ich will es mit ihm im Ehebett tun! und zog sich vor seinen Augen vollständig aus. Nachdem sie die Kerzen angezündet hatte und zu ihm ins Bett gestiegen war, offerierte sie das volle Programm. Sie wusste, dass sie eine gute Liebhaberin war, und das nicht nur, weil Stefan es ihr immer wieder sagte. Über die Jahre hatte sie jede Reaktion von ihm verarbeitet, jede Information gespeichert und sich so in die ideale Bettgefährtin verwandelt, in die Frau seiner Träume. Nun kümmerte sie sich um den Fremden mit genau dieser Intensität, zögerte es lange hinaus, dass er wieder in sie eindrang, und schließlich erreichte sie den richtigen Rhythmus, den sie brauchte. Schnell kam sie, stöhnte laut, hielt ihn fest und kam wenige Minuten später noch einmal. Dann verwöhnte sie ihn ein zweites Mal und hielt ihn danach lange im Arm, strich ihm zärtlich durchs Haar und küsste seine Ohrläppchen. Sie gratulierte sich selbst zu ihrer Idee, ihn mitgenommen zu haben.
„Wir könnten eine Stärkung vertragen“, sagte er. „Ich mach uns einen Hot Shot, wenn du die Zutaten dafür im Haus hast.“ Sie nickte und er sprang aus dem Bett. Einen Moment lang
zögerte sie, bevor sie ihm Stefans Bademantel zuwarf.
In einem langen rosa Shirt folgte sie ihm in die Küche. Während er den starken Kaffee aufbrühte, dachte sie an ihren Ehemann Stefan, und ihr vorherrschendes Gefühl war Abscheu. Was sie am Anfang so wunderbar an ihm gefunden hatte, hielt sie mittlerweile kaum noch aus. Wie er voller Ernst und Detailversessenheit alle Alltagspflichten erfüllte, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Wie er überall und immer für sie und die Töchter da war.
Mittlerweile konnte sie kaum mehr einen Schritt alleine machen. Wenn sie in Berlin inszenierte, holte er sie nach Drehschluss ab, egal, wie spät es war. Wenn die Dreharbeiten außerhalb von Berlin stattfanden, rief er mehrmals täglich an. Stefan hielt auch engen Kontakt zu ihren Kollegen und Mitarbeitern; ihr war bereits der Verdacht gekommen, dass auch dies nur geschah, um über alles Bescheid zu wissen. Neben seiner freiberuflichen Tätigkeit als Übersetzer aus dem Lettischen – mein Gott, ist das überhaupt ein Beruf? – hatte er liebevoll die Villa eingerichtet, nachdem er die nötigen Reparaturen selbst vorgenommen oder beaufsichtigt hatte. Ebenso liebevoll versorgte er die Kinder. So, meinte er, würde er seiner Frau den Rücken frei halten, damit sie alle Zeit und Energie in ihren kreativen Beruf stecken konnte. Für all das war sie ihm anfangs unendlich dankbar gewesen. Aber sie hatte den Zeitpunkt nicht richtig mitbekommen, als seine Fürsorge für die Familie sich in Dauerkontrolle verwandelt hatte.
Als sie irgendwann anfing, zaghaft dagegen zu rebellieren, führte er bereits akribische Listen mit den Lebensmittelvorräten und checkte täglich zweimal die Konten. Tatjana war dann jahrelang jedem Streit zu Hause aus dem Weg gegangen,
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