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Berlin blutrot

Berlin blutrot

Titel: Berlin blutrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: u.a. Sebastian Fitzek
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dergestalt
    bezeichnete Phänomen in letzter Zeit immer häufiger. Insbesondere hinsichtlich ihrer Schülerinnen und Schüler.
    Der Fahrer entsorgte den prall gefüllten Müllsack in einem der Container im Hof. „Tschö mit ö.“
    „Auf Wiedersehen“, sagte Nike und bezog ihr Einzelzimmer im 4. Stock.
    Eine knappe Stunde später stürmte die Klasse johlend und feixend den alten Luftschutzbunker am Anhalter Bahnhof, bevor Nike auch nur einen Halbsatz über Franz Schwechtens meisterliche Verwendung von Greppiner Klinkern bei der Gestaltung des – bedauerlicherweise nur noch in Form eines Portal-Fragments erhaltenen – Bahnhofs verlieren konnte.
    Erwartungsgemäß wurde das historische Bunker-Museum im Untergeschoss im Eiltempo durchschritten, und im ersten Stock erweckte lediglich der patentierte Scheintodsarg das flüchtige Interesse der Schüler. Alles strebte in die dunkle obere Etage, in der laut Ankündigung ein hauseigener Erschrecker sein Unwesen trieb. Er trug eine Totenschädel-Maske aus phosphoreszierendem Kunststoff, tauchte hier und da unerwartet auf, riss bedrohlich die Hände hoch und lachte unnatürlich. Der Tod kann mich nicht schrecken, dachte Nike, und einer aus Plastik sowieso nicht. Sie suchte auf dem kürzesten Wege den Ausgang auf. Hinter ihr kreischten die Mädchen, und die Jungen grölten vor Lachen.
    „Zeugnis der Reife“ hieß es zu meiner Zeit. Ich sollte die Unterschrift verweigern.
    Der Würgeengel erwies sich als Cocktailbar, benannt nach dem gleichnamigen Film, aber da die Klasse noch nie etwas von Luis Buñuel gehört hatte, erwies sich auch dieser Hinweis als sinnlos. Man reichte Tapas. Doch Nike kam gar nicht erst dazu, eins der exotischen Häppchen zu probieren.
    An einem der Nachbartische sprang ein älterer Herr auf und steuerte schnurstracks auf sie zu.
    „Niiiike! Ich fass es nicht! Du hier?!“
    Der Mann trug einen grau melierten Nackenzopf und ausgefranste Jeans, die eine gründliche Wäsche vertragen hätten. Auf seinem T-Shirt, das im Gegensatz dazu offenbar einige Waschgänge zuviel hinter sich hatte, war schwach ein skelettierter Rinderschädel und die Aufschrift W:O:A 2009 zu erkennen.
    „Verzeihen Sie“, sagte Nike reserviert. „Kennen wir uns?“
    Der Mann lachte. „Kennen wir uns?!“, wiederholte er amüsiert.
    „Mensch, Nicki, jetzt tu mal nicht so!“
    Nicki?! Nikes Züge versteinerten. Zweifellos handelte es sich um eine Verwechslung; womöglich hatte der Kerl ja getrunken.
    „Es tut mir leid, aber ich fürchte, wir sind definitiv nicht miteinander bekannt.“ Nike wandte sich demonstrativ ihrem Tapas- Teller zu.
    „Nicki-Maus, jetzt mach aber mal ’n Punkt! Uni Köln! Anno 68!“
    Nike spürte, wie eine Hitzewelle in ihr hochstieg und ihre Wangen zum Glühen brachte. Die Orts- und Zeitangabe war zutreffend. Aber mit langhaarigen Tagedieben und Revoluzzern hatte sie nie zu tun gehabt. Sie hatte es vorgezogen zu studieren. Der Mann grinste sie erwartungsvoll an. „Na? Klingelt da was?“ Nein, da klingelte rein gar nichts. Aber andererseits entwickelten sich manche Menschen ja zurück. Womöglich holte der Bezopfte einfach nur Versäumtes nach. Vielleicht hatte er ja anno 68 kurze Haare und Jackett getragen und Wirtschaftswissenschaften studiert. Aber auch der Versuch, ihr Gegenüber beim RCDS oder einer schlagenden Verbindungen einzuordnen, schlug fehl.
    Bevor Nike einen weiteren Gedanken fassen konnte, langte der Fremde auf ihren Teller, griff nach einer Peperoni und beschnupperte die Käsefüllung. „Was futterst du denn da?“, fragte er.
    Nike blieb buchstäblich die Luft weg.
    Er schob sich die Peperoni in den Mund und redete kauend weiter: „Püppi! Brauchst dich für deine wilden Jahre doch nicht zu schämen! Waren doch gute Zeiten!“ Mit ausladender Geste
    bezog er sämtliche Anwesende in seinen Vortrag mit ein. „Leute, echt! War total geil damals! Trotz Ofenheizung und Ravioli aus der Dose!“
    „Ach, der Herr ist ein ehemaliger Kommilitone von Ihnen!“, ließ sich Kohlhaase – begriffsstutzig wie immer – vernehmen. „Wie nett!“
    Mittlerweile war die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse auf Nike und den Fremden fokussiert.
    „Is ja irre!“
    „Erzählen Sie doch mal!“
    „Wie abgefahren is das denn?“
    Nike konzentrierte sich eisern auf ihren Tapasteller, aber einen Bissen in den Mund zu schieben und coram publico darauf herum zu kauen, erschien ihr plötzlich als geradezu obszön.
    „Nicki, Nicki …“ Der Fremde musterte

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