Berlin blutrot
sie kopfschüttelnd von oben bis unten. „Und so was wird Lehrerin …“ Er wandte sich vertraulich grinsend an Sven-Christoph Fleischhauer und seine Clique: „Nicki war nämlich mal ’n echt heißer Feger! Vorreiterin der No-bra-Szene! Der ganzen Fakultät sind schier die Augen rausgefallen!“
Sven-Christoph nickte verständnissinnig und grinste, stutzte jedoch nach wenigen Sekunden „Was’n Nobra?“
Acht Jahre Englischunterricht für die Katz, dachte Nike und entzog Kohlhaase auch die letzten verbliebenen Fleißkärtchen. Doch wenn sie glaubte, auf diese Weise weiteren Peinlichkeiten zu entgehen, hatte sie sich getäuscht.
„Bra ist die Abkürzung für brassiere! No bra! Alles klar? Feministisch- öffentliches BH-Verbrennen“, übersetzte der Fremde, „nie was von gehört?“ Die Mädchen prusteten und gackerten, die Jungen ahmten Kotzgeräusche nach.
„Nee, nee“, der Zopfträger hob belehrend den Finger, „so schlecht war das gar nicht, mit nichts drunter und so. Bei Regen…“ Er deutete mit beiden Händen weibliche Brüste an, „bei Regen blieb da keine Frage offen …“
Nikes Beckenboden drohte, seinen Dienst zu versagen. Sie sprang auf, griff zu ihrer Handtasche, nestelte ihr Portemonnaie hervor und legte einen Geldschein auf den Tisch. Gern hätte sie auf der Stelle das Lokal verlassen, und einen Moment lang spielte sie sogar mit dem Gedanken, ihren Regenmantel einfach zurück zu lassen. Doch dann obsiegte ihre angeborene Sparsamkeit: Der Mantel war neu und hatte 419 Euro gekostet.
Als sie quer durch den Raum zur Garderobe hastete, hörte sie hinter sich Stühle scharren. Dann Applaus. Als sie den Mantel vom Haken nahm, ging der Applaus in rhythmisches Klatschen über.
„Abi-Scherz! Abi-Scherz!“, skandierte die Klasse.
Nike wandte sich um. Alle waren aufgestanden. Der Mann mit dem Zopf verbeugte sich – die rechte Hand pathetisch auf sein Herz gelegt – in die Runde. Dann kam er strahlend, mit ausgestreckten Händen auf Nike zu.
„Armin Klöpfer“, sagte er und machte einen Kratzfuß. „Schauspieler.“
Die Schüler johlten.
Nike merkte, wie sich ein Teil ihrer Blase entleerte.
Sie holte aus, schlug dem Mann mit der flachen Hand ein Mal rechts und ein Mal links ins Gesicht und verließ – bis ins Mark erschrocken von ihrer Aktion – Hals über Kopf das Lokal.
Mit glühenden Wangen nahm Klöpfer das versprochene Honorar in Empfang und rannte Nike hinterher.
An der Bushaltestelle hatte er sie eingeholt.
„Frau von Redlitz …“
„Wenn Sie Ihre Unverschämtheiten nicht auf der Stelle unterlassen, ruf ich die Polizei.“
Zum ersten Mal in ihrem Leben bedauerte Nike, dass sie die Anschaffung eines Handys bis dato eisern verweigert hatte.
Am nächsten Morgen warteten die Schüler vergeblich auf ihre Deutschlehrerin.
„Vielleicht ist sie sauer wegen gestern und ist abgereist.“
„Ich hab euch gleich gesagt, dass die Alte kein’ Nerv für so washat.“
„Wieso? War doch witzig!“
Als Nike von Redlitz ein halbe Stunde später immer noch nicht im Frühstücksraum aufgetaucht war, fuhr Kohlhaase in den vierten Stock und klopfte an ihre Zimmertür. Zu seiner Verblüffung war sie unverschlossen und öffnete sich wie von Geisterhand. Durch den Spalt sah Kohlhaase Nikes reisefertig gepackten Koffer. „Frau von Redlitz?“
Keine Antwort.
Dann sah er das Blut. Nicht viel, aber es reichte, um ihn panisch die Tür aufstoßen zu lassen.
In Nike von Redlitz’ Zimmer herrschte jene Art von Chaos, die entsteht, wenn man in höchster Eile Ordnung schaffen will: Das Bild über dem Bett hing schief und das Bettzeug lag – verknäuelt mit der Tagesdecke – auf dem Fußboden. Einer der Vorhänge war halb heruntergerissen, und der Teppich war wie eine Ziehharmonika zusammengeschoben, als wäre jemand darauf ausgerutscht.
Der Blutfleck war nicht größer als die Fläche einer Männerhand. Er war in Richtung Tür verschmiert; eine Schleifspur, in der deutlich sichtbar ein paar graue Haare klebten. Im Radiowecker dudelte leise Dancing Queen. Heftiger Brechreiz raubte Kohlhaase vorübergehend die Sinne. Dann wurde ihm klar, dass er die Polizei zu benachrichtigen hatte.
„Wo waren Sie von … bis …?“
„Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse?“
„Wann haben Sie Frau von Redlitz zuletzt gesehen?“
„Hatte sie Ihres Erachtens so etwas wie … Feinde?“
Die Verhöre – von den Beamten korrekterweise Befragung genannt – dauerten bis zum Spätnachmittag.
Als
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