Berlin - ein Heimatbuch
noch, dass der Ewiggestrige demnächst im Leydicke einen Obstwein trinken möchte.
»Clärchens Ballhaus, klasse, da wollte ich schon immer mal hin.« Langsam werde ich echt neugierig, welche unglaublichen Lügen der neue Chef meines Sprachzentrums noch so aus dem Hut zaubern wird.
Am nächsten Samstagabend stehen wir beide geschniegelt und gestriegelt im Hausflur. Ich im dunkelroten Blazer, Karl-Holger in einem von mir geliehenen blauen Jackett, sodass wir aussehen wie ein höchst unseriöser Versicherungsvertreter (ich) und ein übergewichtiger Spätpubertierender im zu klein gewordenen Konfirmationsanzug (mein Begleiter). Immerhin geben Karls geblümtes Hemd und seine Birkenstock-Schuhe einen interessanten Kontrast zu dem dezenten Dunkelblau seiner kriminell straff sitzenden Jacke ab.
Diesmal steigen wir am S-Bahnhof Hackescher Markt aus dem ÖPNV aus, gehen ein Stück die Große Hamburger Straße entlang und biegen links in die Auguststraße ein.
Das Ballhaus empfängt uns mit einem ganz eigenen Flair. Durch seine Räume weht der Charme vergangener Epochen und trotz einiger Renovierungsmaßnahmen hat sich hier offenbar noch kein Indoor-Design-Fuzzi austoben dürfen. Und das ist auch gut so.
Als wir den Saal betreten, wird Karl langsam nervös. Er steht halb auf den Zehenspitzen und sondiert hektisch die bereits gut gefüllte Räumlichkeit. Dann hellt sich seine Miene plötzlich auf und er geht einfach an mir vorbei, quer über die Tanzfläche.
Ich hätte es ahnen müssen. Das ständige SMS-Gefummel und die Heimlichtuerei sprachen ja für sich. Sein Ziel ist ausgerechnet Britta; Britta, die wunderhübsche und knallfreche Rollschuh-Queen. Sie trägt ein weinrotes Samtkleid mit freien Schultern, das eindrucksvoll zu ihrer rotblonden Haarpracht passt. Die beiden geben sich einen flüchtigen Wangenkuss.
Ich versuche, mich schnell und unauffällig in die andere und etwas dunklere Ecke des Raumes zu verflüchtigen. Zwar habe ich dieses Mal keine Spiegelbrille und keine Schlabberbadehose an, aber die rote Schmachtejacke ist auch nicht gerade ein Beweis für mein ansonsten untadeliges Stilgefühl. Der von mir geschickt eingeleitete Rückzug erfolgt einen Wimpernschlag zu spät. Britta hat mich bereits erspäht und mustert mich bekannt kritisch, um nicht zu sagen herablassend-spöttisch.
»Ah, dein geschmackssicherer Freund ist auch hier.« Anscheinend hat sie es aufgegeben, mich direkt anzusprechen und begutachtet mich lieber aus der Distanz. »Heute ist es also die Jacke, die sein besonderes Modegespür belegen soll. Ich freue mich schon auf die Schuhe und Hüte, die er uns demnächst präsentieren wird.«
»Britta und ich machen einen Tango-Schnupperkurs«, versucht Karl-Holger in seiner gewohnt weltmännischen Art das Thema zu wechseln.
»Toll. Ist hier heute Tangoabend?« Man soll sich ja nicht selber loben. Aber im Tanzen bin ich ein absoluter Crack.
»Nein, der Tangokurs ist oben im alten Spiegelsaal. Hier unten ist Schwof, wie immer samstags bei Clärchen«, sagt Britta und hakt sich bei Happy Charly unter. »Das ist eine super Sache, kein Wunder, dass es so voll ist. Hier findest du sicher eine zu deiner Jacke passende Tanzpartnerin«, sagt die gehässigste Wuchtbrumme von allen.
»Keine Sorge, ich komm schon zurecht«, murmele ich verkrampft grinsend. Völlig überflüssig. Die beiden haben mich längst wie einen kaputten Regenschirm stehen lassen. Was nun?
Während ich noch überlege, setzt die Liveband ein. Niemand lässt sich hier lange bitten: Die Tanzfläche füllt sich tsunamiartig mit spaßsüchtigen Menschen. Auch wenn Musik und Tanzstil viel dezenter sind, kann sich das Ballhaus in Leidenschaft und Spaß locker mit dem Kitkat messen. Also stürze ich mich kurzerhand ebenfalls ins Getümmel. An Tanzpartnerinnen aller Altersklassen hat es keinen Mangel. Insbesondere bei einem so chic gekleideten Exemplar der männlichen Spezies wie mir. Diese Britta leidet einfach an Geschmacksverirrung. Vermutlich hat sie irgendeinen ernst zu nehmenden Sehfehler.
Erst gegen Mitternacht tippt mir ein sehr missmutig aussehender Karl auf die Schulter.
»Können wir gehen?«, schreit er hilflos gegen die Musik an. Von seiner rothaarigen Modelfreundin keine Spur. Schade, ich hätte ihr gerne gezeigt, wie verliebt mich meine aktuelle Standardtanz-Eroberung anhimmelt. Dabei ist die junge Dame mit Sicherheit noch keine 60.
Obwohl ich mich gerade blendend amüsiere, bringe ich es angesichts von Karls deprimiertem
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