Berlin - ein Heimatbuch
und nicken ebenso stumm die Kärtchen ab. Am Mierendorffplatz sind sie schon wieder draußen und setzen ihren Kampf gegen die Windmühlenflügel irgendwo anders fort.
»Was für ein Aufzug war das denn?«, platzt es aus Karl heraus, während er den beiden Gruselgestalten staunend hinterherschaut.
»Was denn? Ist doch ’ne super Tarnung. In München würden solche Typen allerdings sofort vom privaten Sicherheitsdienst eingesackt werden. Fehlten eigentlich nur noch Akkordeon, Blindenhund und Sammelbüchse. Und ein Schild auf dem Rücken: Unsere freundlichen BVG-Kontrolleure werden ausgestattet von ›Humana‹«.
Karl guckt mich wieder mal trübe an. Okay, jeden Secondhandshop muss man als Schwabe wahrscheinlich nicht kennen.
Als wir zu Hause sind, halte ich umgehend Ausschau nach meiner Angetrauten.
»Mann, hab ich einen Hunger. Liebling?«
»Ich hab vorhin schon eine Kleinigkeit gegessen, Schatz. Ist aber noch was da«, höre ich die treu sorgendste Ehefrau von allen aus dem Wohnzimmer.
»Karl?« Wo steckt der Kerl? In unserem trauten Heim gibt es keine Buchhandlung.
Ich finde den Abtrünnigen im Gästezimmer. Eigentlich nicht überraschend. Er steht, seinen geliebten Brotbeutel, den er ständig mit sich herumschleppt, wie eine Schmusedecke an sich pressend, mitten im Raum, während sein rechter Daumen erstaunlich behände irgendeine Message in sein prähistorisches Gerät hackt. Ob es wohl in der Steinzeit schon Akkus gab? Oder betreibt man das Ding mit Feuersteinen?
»Hey, Mister Tallymann, sag mal fix und dalli an: Magst du auch was essen? Oder soll ich dir die Frage lieber als SMS schicken?«
Er schaut mich glubschäugig an, grinst und folgt artig in die Küche.
»Murat, was hast du eigentlich nächsten Samstagabend so vor?«, plaudert er los.
»Nichts Konkretes bisher«, antworte ich und frage mich, worauf er nun schon wieder hinauswill.
»Weil, ich würde sonst auch gern mal was alleine machen.«
Aha. Neue Hoffnung für mich. Das Landküken wird großstadtflügge.
»Und was hast du vor – wenn ich mal so indiskret fragen darf?« Gegen meine angeborene Neugier habe ich bislang noch kein Rezept gefunden.
»Na ja, ich wollte ...« Meine Frage passt ihm eindeutig überhaupt nicht ins geheimnistuerische Konzept. »... also ich denke, ich gehe da mal, ähm, tanzen.«
Wow. Die Überraschung ist ihm gelungen.
Ich muss grinsen. Tanzen und Bewegungsaskese. Irgendwie passen die Begriffe für mich nicht zusammen. Vielleicht ist diese groteske Idee eine Nachwirkung seiner Kitkat-Drogen?
Ich mache erst einmal auf Pokerface. Und greife mir in aller Ruhe eine Bulette, die wirklich niemand so gut zubereitet wie meine Angetraute.
»Ist das okay für dich, Murat?«
»Logisch, Mann. Kannst machen, was du willst. Fühl dich bloß nicht verpflichtet oder so was.«
Mein innerer Schweinehund tanzt einen wilden Freudensamba. Frei, endlich frei! Und sei es auch erst nächste Woche und nur für einen Abend. Karl ist jetzt ein bisschen verunsichert. Die nächsten Sätze diktiert ihm unüberhörbar sein schlechtes Gewissen.
»Also nicht dass du mich falsch verstehst, Murat. Du kannst selbstverständlich auch gerne mitkommen. Ich dachte nur, du willst vielleicht auch mal einen Abend ...«
»Okay«, höre ich mich im gleichen Moment sagen, »wenn du unbedingt willst, dann komme ich mit.«
Ich bin fassungslos. Bin ich von Satan, Teufel, Beelzebub besessen? Oder was? Wie kann ich gegen meinen erklärten ausdrücklichen Willen einen derartig verlogenen Satz formulieren? Ich erschaudere vor meinem offensichtlichen und anscheinend grenzenlosen Masochismus.
Auch Karl entgleiten die Gesichtszüge. Unter Aufbietung aller Willenskraft müht er sich ein diplomatisches Lächeln ab. Das eher wie eine Kriegserklärung aussieht. Gut, das ist die perfekte Chance, mit einem gepflegten Rückzieher aus dieser Falle herauszukommen.
»Wo soll sie denn starten, die wilde Sause?« Oh Gott. Mein Sprachzentrum steht unter dem Einfluss irgendeiner fremden und im höchsten Maße grausamen Macht.
»Clärchens Ballhaus«, kommt es verschüchtert zurück.
Mir fällt fast das Essen aus dem Gesicht. Ich verschlucke mich an dem Rest der Bulette und röchele quer über den Tisch.
»Ist was nicht in Ordnung, Murat?«
»Nein, alles gut. Es geht schon wieder.« Clärchens Ballhaus ist echt ein Treffer, ein dickes Ass. Wie kommt er denn jetzt darauf? Hat er sich im Antiquariat einen Reiseführer aus den 20er-Jahren andrehen lassen? Fehlt nur
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