Berlin - ein Heimatbuch
Straßenkreuzung in den Nachbarbezirk schickst, ist er meist hilfloser als ein x-beliebiger Tourist aus Nordkorea. Berlin ist eben keine Stadt aus einem Guss, die City ist erst über die Jahrhunderte durch die Zusammenlegung einzelner Ortschaften gewachsen. Genau genommen müsste es also heißen: VDB, Vereinigte Dörfer von Berlin.
Karls durchdringende Stimme, die neue Lesefrüchte zum Besten geben möchte, reißt mich unsanft aus meinen ethnologischen Reflexionen.
»Hast du gewusst, dass Spandau die mit Abstand beste Wasserballmannschaft Deutschlands hat? Die waren schon 31 Mal Meister.«
»Ist ja auch kein Wunder. Spandau ist praktisch eine Insel. Wenn du da Fuß- oder Handball zu spielen versuchst, landet der Ball früher oder später im Wasser.«
Karl schenkt mir einen seiner abschätzigen Beinahe-hätte-ich-gelacht-Blicke. Und vertieft sich wieder in seine Folianten.
Als wir an der Haltestelle »Zitadelle Spandau« aus dem Untergrund hervorkrabbeln, empfangen uns die Festungsmauern im noch warmen Licht der schwächer werdenden Abendsonne.
»Nicht schlecht, die Burg«, rutscht es mir angesichts des erhabenen Anblicks heraus.
»Das ist keine Burg.« Diese willkommene Möglichkeit zur Belehrung lässt sich unser Prahlhans natürlich nicht entgehen. »Als Burg bezeichnet man eine befestigte Wohnanlage, wie sie im Mittelalter gebräuchlich war. Das hier dagegen ist wehrtechnische Hightech-Architektur: Die Zitadelle ist eine Renaissance-Festungsanlage. Und gilt im Übrigen als eine der besterhaltenen ihrer Art in Europa.«
»Na ja, wenn du meinst«, gebe ich klein bei. Ich habe jetzt eigentlich keine Lust auf ein Klugscheißer-Battle.
Karl lässt das völlig kalt. Er legt sofort nach: »Erbaut wurde sie 1559 bis 94. Ursprünglich von einem Italiener Namens Francesco Chiaramella de Gandino. Später hat ein gewisser Rochus Graf zu Lynar das Projekt fertiggestellt. Die ganze Anlage ist so ausgeklügelt, dass sich kein toter Winkel ergibt, in dem sich irgendwelche Angreifer hätten verstecken können.«
Schade eigentlich, so ein toter Winkel zum Abtauchen käme mir jetzt sehr gelegen.
Wir erklimmen den Wallgang und umrunden die gesamte Anlage. Alles ist überaus massiv und macht auch nach all den Jahrhunderten noch einen intakten und extrem wehrhaften Eindruck. Dass der ganze Komplex mal als Gefängnis genutzt wurde, liegt mehr als nahe. Wir ersteigen den altehrwürdigen Juliusturm und genießen die perfekte Aussicht über Spandau, den Grunewald und den Westen Berlins.
»Wusstest du, dass hier auch Filme produziert wurden?«, fragt Karl mit schlaudreistem Lächeln.
»Ein paar Edgar-Wallace-Filme nämlich: ›Der Rächer‹, ›Der Hexer‹ und ›Der Buckelige von Soho‹.«
»Die Brillenschlange aus Schwaben« geistert mir als Alternative durch den Kopf, aber um des lieben Friedens willen spare ich mir die Spitze.
Und rege alternativ an, uns nach Art der alten Ritter in der »Zitadellenschänke« zu stärken.
»Nee, lass man«, wehrt der übergewichtige Asket ab. »Wir haben noch Butterbrote übrig.«
Was mich argwöhnen lässt, dass sein Urlaubsbudget tatsächlich langsam ausgeschöpft ist. Eigentlich ein gutes Zeichen. Wichtig ist nur, dass er sich am Ende noch das Rückfahr-Ticket in die Heimat leisten kann.
»Aber die Fledermäuse würde ich gern sehen!« Schade, so ausgemergelt wie erhofft scheint seine Kasse doch noch nicht zu sein. Allerdings stellen wir ein paar Meter weiter fest, dass der Fledermauskeller täglich nur zwischen 12 und 17 Uhr geöffnet ist. Bedauerlich, denn die Fledermauskolonie der Zitadelle ist eine echte Attraktion. Hier leben bis zu 10.000 dieser faszinierenden Tiere. In einem noch zu publizierenden Hotelführer für Fledermäuse würde dieses Fünf-Sterne-Winterquartier sicher eine führende Position einnehmen. Über den Verein BAT e. V. kann man hier sogar spezielle Führungen zu den entlegenen Aufenthaltsorten dieser kleinen Flugnager buchen und dabei unter anderem eine Floßfahrt durch die Gräben der Zitadelle unternehmen.
»Wusstest du eigentlich, dass die Vereinten Nationen 2011 als ›Jahr der Fledermaus‹ ausgerufen haben?«, gibt Herr Weißschonwiederalles eine weitere Kostprobe seiner nutzlosen Kenntnisse.
Nee, wusste ich natürlich nicht. Aber Tiere, die den ganzen Tag abhängen und nachts schwer auf Achse sind, wären sicher ein passendes Wappentier für Berliner Bezirke wie Friedrichshain, Kreuzberg oder auch Neukölln. Herr Bürgermeister, übernehmen
Weitere Kostenlose Bücher