Berlin - ein Heimatbuch
Sadomaso-Fetisch-Szene. Und trotzdem knallt’s fast nie – außer im Kreisverkehr«, kann ich mir einen kleinen Scherz nicht verkneifen.
Karl lächelt gequält, gibt aber kein Kontra. Also freie Bahn für mich.
»Und jede Community hat hier natürlich ihre Treffpunkte, so der ›Monarch‹ für die neue alternative Szene oder ›Equipage‹ beziehungsweise ›Henris Bar‹ für die Peitschenschwinger. Ein echtes Problem der Gegend hier ist inzwischen, dass der Kotti der Berliner Umschlagplatz für Drogen aller Art, insbesondere aber für die der harten Sorte geworden ist. Einen Schuss Heroin bekommst du hier inzwischen für unter zehn Euro. Früher setzten sich die Junkies ihre Spritze im Parkhaus um die Ecke. Seit es wegen Renovierung geschlossen ist, nutzen sie vorwiegend die heruntergekommenen Flure und Höfe im NKZ, diesem verwahrlosten Wohnmonstrum. Seit Jahren fordern Politiker aller Couleur den Abriss. Aber passieren tut: nix.«
Weil mich die Zustände am Kotti schon seit Jahren verrückt machen, habe ich mich, ohne es zu merken, in Rage geredet. Karl fasst mich beruhigend an den Arm. »Murat, weißt du was. Jetzt verstehe ich, warum das Kottbusser Tor der neue Bahnhof Zoo ist.«
Selbst ein schwacher Trost ist besser als ein Käsetoast.
Bahnhof Zoo – ungeliebt und fast vergessen
Der nicht überraschend in unmittelbarer Nachbarschaft zum Berliner Zoo liegende Bahnhof Berlin Zoologischer Garten, kurz Bahnhof Zoo, wurde 1882 eröffnet. 1902 wurde der unterirdische Bahnhof der heutigen U-Bahn-Linie U2 (die erste U-Bahn-Linie Berlins) in Betrieb genommen.
Während der Teilung Berlins war der Bahnhof Zoo der wichtigste Verkehrsknotenpunkt und einzige Fernbahnhof der Weststadt. Zu eher zweifelhaftem Ruhm gelangte der Bahnhof, als der »Stern« 1978 unter dem Titel »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« den Erfahrungsbericht der heroinabhängigen Stricherin Christiane F. herausbrachte. Das Buch und der einige Jahre später veröffentlichte Film thematisierten den Alltag der um den Bahnhof Zoo herum florierenden Drogen- und Stricherszene aus der Sicht einer Betroffenen und wurden beide zu Welterfolgen. Infolgedessen wurden auch Lieder über den damit international bekannt gewordenen Bahnhof Zoo geschrieben, unter anderem von U2 (»Zoo Station«), Nina Hagen (»Auf’m Bahnhof Zoo im Damenklo«) und der schwedischen Punkrockband Randy (»Bahnhof Zoo«). Mit der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs und der Aberkennung des Status als Fernbahnhof wurde der Bahnhof Zoo verkehrspolitisch bedeutungslos und noch trister, als er vorher schon gewesen war. Inzwischen denkt die Deutsche Bahn immerhin über die dringend gebotene grundlegende Sanierung der traditionsreichen Station nach.
Flohzirkus am Mauerpark
Fragen Sie mich bitte nicht, was es noch für eine Tortur war, die Millionen Tüten und Karls bullige Kaffeemaschine in die Britzer Heimat zu schaffen. Jedenfalls waren wir beide derart geschafft, dass es anschließend nur noch für einen schlappen Fernsehabend reichte. Was mir sehr recht war, da ich am Montagmorgen früh zu einer sechstägigen Gastspielreise aufbrechen musste. Sechs Tage ohne den lästigen Klugmeiner und Besserwisser! Erschien mir diese Aussicht zunächst wie das pure Paradies, entpuppte sie sich im Laufe der Tage als eher langweilig. Ich will nicht sagen, dass ich den Dickwanst vermisste, aber das Herumstreunen in der Stadt und das ein oder andere anregende Rededuell fehlte mir schon. Also war ich ganz froh, am nächsten Sonntag um sechs Uhr früh wieder daheim zu sein.
Zu meiner grenzenlosen Überraschung herrscht im trauten Heim trotz der nachtschlafenden Zeit bereits geschäftige Unruhe. Die umtriebigste Ehefrau von allen hat im Wohnzimmer eine ganze Armada überdimensionierter Umzugskartons aufgereiht und sortiert dort wahlweise Bücher, Haushaltskram und nutzlosen Nippes ein. Karl steht im Pyjama daneben. Seine einzige körperliche Betätigung besteht allerdings darin, sich gedankenverloren am Hintern zu kratzen.
»Was geht denn hier ab?«, frage ich. »Ziehen wir um – oder plant ihr beiden Turtelspätzle die gemeinsame Flucht ins Schwabenländle?«
Meine Gattin, die manchmal erstaunlich humorlos sein kann, schaut mich nur distanziert an. »Red kein Blech. Wir fahren zum Flohmarkt am Mauerpark. Hatte ich das nicht gemailt?«
Ich schüttele den Kopf. Dunkel aber erinnere ich ihre kürzliche Aufforderung, den Keller aufzuräumen. Offenkundig hat sie jetzt selbst Fakten geschaffen.
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