Berlin - ein Heimatbuch
Kontrolleuren von neulich ist er adrett gekleidet und leiert seinen Verkaufsspruch im monotonen Singsang jahrelanger Routine herunter.
»Hallo, werte Fahrgäste, entschuldigen Sie bitte die kurze Störung, ich bin der Rudi, ich bin seit vier Jahren ohne Job und Wohnung ...«
Praktisch niemand nimmt ihn überhaupt wahr. Aus purem Mitleid gebe ich ihm eine Münze und verzichte auf die Zeitung. Karl versteht das nicht. »Die hast du doch bezahlt, warum nimmst du die nicht?«
Ich erkläre ihm, dass mir die moralische Unterstützung wichtiger ist als der journalistische Inhalt und der gute Rudi seine Zeitung jetzt außerdem ein zweites Mal verkaufen kann.
Karls Stirn runzelt mich an.
»Wieso ein zweites Mal verkaufen? Er hat sie ja bislang noch kein erstes Mal verkauft.«
Die berühmten Milchmädchen mit ihren eigenwilligen Rechnungen waren bestimmt Schwäbinnen.
»Naaa gut, ich habe mich unpräzise ausgedrückt. Natürlich kann er sie kein zweites Mal verkaufen, da er sie ja tatsächlich noch kein erstes Mal verkauft hat. Was ich damit sagen wollte, ist dies: Die Verkäufer müssen ihre Zeitungen bei der Redaktion einkaufen. Das heißt, buchhalterisch betrachtet haben sie einen Wareneinsatz getätigt. Wenn sie nun von mir und anderen großzügigerweise Geld erhalten, ohne die eingekaufte Ware herausrücken zu müssen, sinkt ihr finanzieller Einsatz pro gekauftem Warenstückgut und vergrößert damit ihren Gewinn. Verstehst du, was ich meine?«
Der aus unerfindlichen Gründen staatlich anerkannte Pädagoge schaut mich an, als wäre er auf der Sonderschule nicht Lehrender, sondern Lernender. Als Kaufmann wäre er sicher längst verhungert.
»Vergiss es, Karl«, rufe ich in Panik, als ich zu meinem Schrecken sehe, dass der Zug während meiner betriebswirtschaftlichen Nachhilfestunde bereits in den Bahnhof Kottbusser Tor eingefahren ist. »Greif deinen Kaffeebrüher und raus.«
Bevor mein Begleiter sein bleischweres Paket in eine tragbare Position liften kann, stürzen Frauen, Kinder, Hunde und Radler an ihm vorbei ins Freie, und neue Pendler fluten ins Abteil. Ich stehe auf der Türschwelle und versuche mit meinen KaDeWe-Tüten das zu blockieren, was ich für eine Lichtschranke halte.
»Hau rein, Karl-Holger, der Zug startet gleich wieder durch!«
Während der unbeholfene Sportlegastheniker den sperrigen Quader hochreißt, tönt aus dem Bahnsteig-Lautsprecher bereits ein unbarmherziges »Zurückbleiben, bitte!«.
Der in Panik geratende Kaffeemaschinen-Sherpa verhakt sich, blind nach vorne wankend, in den Pedalen eines im Weg stehenden Mountainbikes und fällt, das Gleichgewicht verlierend, seinem kostbaren Paket hinterher durch die sich mechanisch schließende Wagentür auf den Bahnsteig. Mit voller Wucht! Zum Glück ist seine Vorderseite gut gepolstert. Bevor die erbarmungslos aufeinander zustrebenden Türhälften erst meine Tüten und dann mich zu Pulver zermahlen, springe ich im letzten Moment ebenfalls nach draußen. Offensichtlich befindet sich die Lichtschranke nicht dort, wo ich meine Tüten hingehalten habe. Oder die Berliner U-Bahn-Waggons haben gar keine Lichtschranken.
» Zurückbleim, ha ick jesacht! « Voller aufgestauter Wut macht uns die Bahnsteigaufsicht nach allen Regeln der Kunst zur Schnecke. Na gut, ist sicher auch nicht einfach, den lieben langen Tag durchgeknallte Bahnreisende zur Ordnung zu rufen. Das Schlimmste ist wahrscheinlich, dass einen niemand ernst nimmt. Wenn dann aber zur Überraschung aller doch mal ein Unfall passiert, zeigen alle mit dem Finger auf die unfähige Ordnungskraft. Nachdem wir uns, wie zwei beim Sushiklau ertappte Japaner ununterbrochen schuldbewusst nickend, die verdiente Schelte abgeholt haben, begutachtet Karl fassungslos den Schaden an seiner teuer erworbenen Designerware.
»Hey«, versuche ich zu beschwichtigen, »ist doch nur die Packung, die was abbekommen hat.«
»Ja toll. Aber wenn ich die wieder umtauschen will, bin ich voll angeschmiert. Hättest du mir nicht früher Bescheid geben können, dass wir gleich da sind?«
Gut, da hat er natürlich recht. Leicht zerknirscht entschuldige ich mich, was den gutmütigen Heilbronner schon wieder halbwegs besänftigt.
»Komm, schultere deinen edlen Mokkaspender, und dann zeige ich dir einen echten sozialen Brennpunkt.«
Schwer keuchend unsere unnützen Errungenschaften transportierend, bahnen wir uns durch die wuselnden Menschenmassen einen Weg zur Rolltreppe.
Unten angelangt setzt Karl seinen Pappcontainer
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