Berlin - ein Heimatbuch
stöhnend vor dem Blumenstand ab: »Ich kann nicht mehr. Ich brauche dringend eine Pause.« Sagt’s und setzt sich auf das Paket. Direkt vor ihm steht, mitten im Gang, ein hagerer Mann mit glasigem Blick. Aus seiner Armbeuge tropft Blut, er schwankt bedenklich und kann sich kaum auf den Beinen halten. Passanten umkurven den Junkie achtlos, als sei er einfach ein lästiges Verkehrshindernis.
Bevor Karl oder ich etwas sagen oder unternehmen können, klopft ein anderer ebenfalls völlig fertig aussehender Typ Karl von hinten auf die Schulter und fragt, mit Blick auf den Karton, was er für die »Ware« haben will. Karl schaut ihn irritiert an. Der Kaufwillige zeigt mit hektischem Armwedeln auf die nur noch unvollständig verpackte Kaffeemaschine, was meinen armen Begleiter erneut arg ins Schwitzen bringt.
»Ich verkauf nix. Sorry. Tut mir wirklich leid.«
Woraufhin der von so viel ungewohnter Höflichkeit irritierte Untergrund-Kaufmann sofort seine Strategie wechselt und vom potenziellen Käufer zum Anbieter wird.
»Stoff?«, krächzt er in einem Tonfall, als würde er sich für den Fulltime-Job im Gruselkabinett bewerben.
»Nein danke, ich bin versorgt.« Karl wächst die Situation augenscheinlich über den Kopf, weshalb er eiligst aufsteht, mit heldenhaftem Mut wieder seinen leidigen Karton schultert und mit so raumgreifenden Schritten, wie seine kurzen Beine sie zulassen, dem Ausgang zustrebt. Kann es sein, dass mein weltfremder Gast den spillerigen Fragesteller für einen ambulanten Schneidermeister gehalten hat? Oder womit ist er angeblich »versorgt«? Ich beschließe, diesen Fragen lieber nicht weiter auf den Grund zu gehen, und versuche stattdessen mit dem Flüchtenden Schritt zu halten.
Draußen im Tageslicht muss Karl erneut eine Pause einlegen. Ich bin die Tütenschlepperei langsam auch leid. Es war wahrlich keine gute Idee, nicht sofort nach Hause zu fahren. Vor und über unserem Rastplatz erhebt sich eine der größten Bausünden Berlins, das NKZ, das Neue Kreuzberger Zentrum. Betonarchitektur der 70er-Jahre in ihrer schauderhaftesten Ausprägung. Ich habe das Gefühl, Karl kriegt langsam die Krise. Die Schattenseiten des Lebens sind vermutlich nichts für sein eskapistisches Gemüt. Zeit, ihn aufzumuntern und ihm zur Abwechslung wieder was Nettes zu zeigen.
»Komm, wir gehen zu Möbel-Olfe«, schlage ich vor.
»Möbel-Olfe? Hast du sie noch alle? Sollen wir zusätzlich zu unserem ganzen Krempel noch Möbelstücke durch die Gegend wuchten?« Karl hyperventiliert geradezu vor Empörung. Wahrscheinlich hält er mich für endgültig abgedreht.
Ich versuche, ihn wieder auf Normalnull zu bringen. »Vertrau mir und lass dich einfach überraschen.«
Wir umrunden das Wohnsilo und entern an der rückwärtigen Seite das Olfe.
Von außen aussehend wie die Kantine eines kurz vor der Pleite stehenden Ikea-Konkurrenten, ist die Einrichtung drinnen 100 Prozent Kreuzberger Trash. Kann man mögen, kann man auch bleiben lassen. Jedenfalls ist sie authentisch und kein Ergebnis ausgefeilten Stylings wie in vielen Lokalitäten in Mitte oder Prenzlauer Berg. Die Kundschaft ist ein guter Mix aus Studenten, Partyvolk und Regenbogenszene.
Karl, der von dem Ambiente sichtbar befremdet ist, sich aber dennoch ganz wohl zu fühlen scheint, bestellt ein »Tannenzäpfle«, ich eine trübe Apfelschorle.
»Das Olfe gilt seit Jahren als Geheimtipp«, kläre ich mein Gegenüber auf. »Zwischendurch gab es mal einen Bericht über diese Kneipe in einem Bord-Magazin von Easy Jet. Danach ist der Laden zeitweilig aus allen Nähten geplatzt vor lauter Touristen. Übrigens ist es meiner Meinung nach eine Berliner Erfindung, dass Kneipenbetreiber einfach Firmenschilder, Interieur und Namen der vorherigen Mieter übernehmen. Pionier dieser Bewegung war das inzwischen ebenfalls legendäre ›Obst und Gemüse‹ in der Oranienburger Straße.« Karl nickt nur abwesend. Mir scheint, er ist einfach nur froh, in einem geschützten Raum und nicht mehr auf freier Wildbahn am Kotti zu sitzen. Na gut, auch wenn er es nicht zu würdigen weiß: Mein zum Teil noch aus Polizeizeiten stammendes Wissen über Kreuzberg wird er sich wohl oder übel anhören müssen.
»Kulturell und bevölkerungspolitisch betrachtet ist Kreuzberg hochinteressant, da völlig unterschiedliche Lebensphilosophien aufeinanderprallen. Türkische Community trifft Westprekariat trifft alte alternative Szene trifft neue alternative Szene trifft Drogenszene trifft
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