Berlin Fidschitown (German Edition)
Heizungsluft hinderte die Tapete in den Wintermonaten daran, sich weiter von den feuchten Wänden abzupellen.
Der Mann mit der Froschhand saß in einer seiner Außenstellen im sechsten Stock eines Vietnamesenwohnheims im Stadtteil Marzahn und sah den Kakerlaken zu, die über den geblümten PVC-Belag huschten. Die abgetretenen Margariten verzierten den Fußboden des vierzehn Quadratmeter großen Raumes, der durch einen Vorhang in Schlaf- und Wohnraum getrennt war. Die Frau, deren schmales Bett hier stand, gehörte zu seinen engsten Vertrauten. Sie war Geliebte, Köchin, Informantin und Propagandasprachrohr. Er hatte sie weggeschickt, um in Ruhe nachdenken zu können. Wenn sie zurückkam, würde er nicht mehr hier sein. Er mochte keine Abschiedsszenen, und Gedanken musste er sich keine um sie machen, denn die Mitbewohner ließen sie in Ruhe – aus Angst vor ihm.
Dieses Mal hatte er sich länger bei ihr aufgehalten als üblich, denn die Presseberichte über die Tote am Wasserfriedhof bereiteten ihm Bauchschmerzen. Er fürchtete sich, dem Captain unter die Augen zu treten, und so hatte er jeden Vorwand genutzt, um seinen Pendlerauftrag in der Oberwelt um einige kostbare Tage und Stunden zu verlängern. Aber die Zeit war lange abgelaufen. Er musste zurückkehren.
Normalerweise hielt er es in diesem Ghetto nie länger als eine Nacht aus. Nicht, dass es ihn weiter gestört hätte, die heimischen Nachbarn als ungebetene Zuhörer zu haben, wenn er mit der Frau schlief. Es machte ihm so wenig aus wie die Geräusche und der Gestank des Etagenklos, das am Ende des Flurs lag. So etwas wie Privatsphäre hatte er nie in seinem Leben gekannt, und in diesem Silo wurde zudem jedes Lachen und jeder Schrei – ganz egal, ob aus Lust oder Schmerz ausgestoßen – von dutzenden Fernsehapparaten übertönt, in denen so gut wie ununterbrochen Gameshows liefen. Nein, es war nicht der Rummel des ärmlichen Daseins, der alle Ecken und Nischen dieses Plattenbaus durchdrang, auch nicht die Penetranz gemeinsam ertragener Gerüche, nicht die Trostlosigkeit der Armut. Es war der Respekt vor dem Feind, der ihn normalerweise in Bewegung hielt, ihn dazu trieb, kein festes Ziel abzugeben, denn alleine auf diesem Flur hatte es in den letzten vier Wochen zwei Tote gegeben, im ganzen Wohnblock sieben in den letzten beiden Monaten, und keiner von ihnen war an Altersschwäche oder einer Infektion gestorben.
Man hatte sie abgestochen oder abgeknallt, und er hatte nicht vor, den Killern eine Chance zu bieten. Deshalb war er stets wachsam. Auch wenn er die Frau fickte, hatte er ein Ohr auf den Gang. Egal wie laut sie schrie und stöhnte, er lauschte in den Brei aus Lärm und Geräuschen, der durch die Flure waberte, war gewappnet und machte sich stets rechtzeitig auf den Weg.
Doch diesmal wog die Angst vor dem Zorn des Captains schwerer als ein ungewollter Feindkontakt, und so hatte er etwas getan, was er der Frau nie gönnte – er hatte sich Zeit gelassen und es hinausgezögert. Er warf einen letzten Blick in die Plastikschüssel, die auf dem Fußboden stand. Der dicke Karpfen schwamm nahezu bewegungslos im Leitungswasser. Nur ein leichtes Fächern der Brustflossen verriet, dass das Tier noch lebte. Die Kakerlaken versuchten an der Plastikschüssel hochzuklettern, rutschten aber immer wieder ab und fielen auf den Rücken. Er stand auf, trat eine Hand voll der Küchenschaben tot, genoss das Knistern, mit dem sie zu dem Brei wurden, den er mit schlurfenden Schritten über die Margariten schmierte, und machte sich auf den Weg.
Im Flur roch es nach Fischsuppe. Er stieg über die beiden alten Frauen und ihren kleinen Kocher, mit dem sie den schmalen Gang blockierten. Sie hatten nur einen Fischkopf im Topf, mehr konnten sie sich nicht leisten, trotzdem würden sie es nicht wagen, sich am Karpfen seiner Geliebten zu vergreifen. Zwei Türen weiter schnitt Hai, der Junge aus dem mittleren Hochland, einem Alten aus Hanoi die Haare. Am Ende des Gangs hatte die junge Thuy aus Hue einen einfachen Gemüseladen eingerichtet, in dessen Enge ihre beiden Kinder herumtollten so gut es ging. Die meisten Wohnungen waren zugleich Verkaufsstände. Im ganzen Wohnheim herrschte ein steter Reigen aus Geschäfte machen, kochen, schlafen und TV glotzen.
Im Treppenhaus überlegte der Mann mit der Froschhand, ob er in der Garküche im zweiten Stock nicht noch schnell eine Suppe essen solle. Er verwarf den Gedanken und beeilte sich, aus dem Haus zu kommen. Der Geruch nach
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