Berlin Gothic 7: Gottmaschine (Thriller) (German Edition)
dünnen Hosen gedrungen ist, aber er ist nicht aufgestanden.
In seinem Kopf haben sich die Eindrücke der vergangenen Stunden zu einem breiten Strom von unzusammenhängenden Fetzen verknotet. Er sieht die entkleidete Frau an der Decke aufblitzen, ihren Leib sich in der aufgeheizten Luft drehen. Er sieht Lisa neben sich am Tisch in dem Restaurant stehen, er sieht Felix vor sich auf dem Dach.
Und er sieht die Gräber von Armin und Max - sieht Max, wie er im Haus der Bentheims ihn anlacht, wie sie den Flur entlang zur Eingangshalle rennen, die Treppe hoch ins obere Stockwerk. Er sieht sich mit Max, Lisa, Betty, Claire und den Eltern am Frühstückstisch sitzen, sieht Bentheim mit seinem Sohn reden. Er sieht sich zu Bettys Hochzeit zurück nach Berlin kehren, sieht sich mit Max und Henning und all den anderen auf Irinas Party reden. Mit Lisa vor dem Café sitzen, als er ihr von der Arbeit erzählt hat, an der er in Toronto vor zwei Jahren schrieb.
Wie hat es nur geschehen können, dass alles so unendlich falsch herausgekommen ist? Wo ist es gewesen, dass es ihm entglitten ist - sein eigenes Leben? Wo ist es gewesen, dass er Max verloren hat? War das der Moment, an dem er sein Leben nicht mehr in den Griff bekommen hat? Oder liegt das noch länger zurück? Hat es begonnen, als er tief unter der Stadt hinter Bentheim die Tür des Verschlags zugeschlagen hat? Unendlich langsam tropfen die Erinnerungen in Tills Kopf, während seine Gedanken ruhe- und rastlos von einer zur nächsten springen.
Hat Max ihn nicht mit seinem Hass auf den Vater erst dazu getrieben, diese Tür zuzuwerfen? Aber dieser Hass …
Tills Gesicht vergräbt sich in seinen Händen.
… dieser Hass von Max auf seinen Vater - hat er, Till, ihn nicht erst wirklich zum Lodern gebracht? Hat Bentheim nicht seinem Sohn gegenüber gezeigt, dass er Till, dem fremden Jungen, mehr vertraut, mehr zutraut als Max - seinem eigenen Sohn?!
Und jetzt … Tills Gedanken gehen weiter, wie von einem eigenständigen Mechanismus getrieben … und jetzt soll er, Till, das fiktive Universum weiterschreiben - jenes Universum, das Max‘ Vater zuerst entworfen hat. Von dem Bentheim ihm erzählt hat, bevor sie sich auf ihren Weg in die Gänge unter der Stadt gemacht haben.
Berlin Gothic.
Eine Geschichte über Infekte, Tierversuche, Haiti - eine Geschichte, in der es um eine Invasion geht.
Zugang, Zone, Zentrum, hört Till Max sagen … Sie hatten in dem Spielsalon gesessen, hinter der kleinen Bühne, auf der die Mädchen in den Tierkostümen aufgetreten sind. Dort hat Max ihm erzählt, was er in den Kisten seines Vaters entdeckt hatte. Gerade so, wie Max ihm zehn Jahre zuvor im Wald die Notizbücher gezeigt hatte, die er im Keller des Gartenhauses aufgestöbert hatte. Die Notizbücher mit den Aufzeichnungen des Mannes, der mit seiner erkrankten Frau nach Haiti gereist war, wo er hoffte, sie heilen zu können …
Berlin Gothic.
Eine Geschichte über einen Infekt, der sich ausbreitet -
Und plötzlich ist es, als würde eine Eisenhand in Tills Seite gerammt werden.
Er keucht und fühlt, wie ihm kalter Schweiß auf die Stirn tritt.
Die Unruhe, die in der Stadt herrscht - Berlin scheint förmlich zu vibrieren …
Es ist nicht der Anfang des Frühlings, es ist kein Wetterumschwung, es ist etwas anderes - etwas, das einen geradezu anspringt, wenn man durch die Straßen geht, das man meint, förmlich mit Händen greifen zu können. Vorhin, in dem Haus am See, als er an der Küche vorbei gegangen ist, hat er eine Stimme aus dem Radio gehört. Es sind Fälle von Tollwut aufgetreten, deren Zahl überraschend schnell zunimmt. Noch würden die Kranken in einem Krankenhaus im Norden zusammengelegt werden, haben sie im Radio gesagt, aber niemand könne mit Sicherheit wissen, ob das als Vorsichtsmaßnahme ausreichen wird.
Schwindelanfälle, Halluzinationen, Schlaflosigkeit - bis hin zum Delirium. Eine Entzündung des Gehirns, ein Infekt, der über das Rückenmark bis ins Gehirn aufsteigt.
Ein Infekt, der das Gehirn der Erkrankten befällt - so dass sie nicht mehr Herr über sich selbst sind.
Wieder beißt der Krampf in Tills Seite.
ZUFALL?
Soll das ein Zufall sein?
Dass ausgerechnet jetzt, wo Felix alles daran setzt, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, dass ausgerechnet jetzt , wo Felix mit aller Kraft die Arbeit an seinem fiktiven Universum vorantreibt, ein Virus um sich greift, DER GENAU DAS BEWIRKT, WORUM ES IM FIKTIVEN UNIVERSUM GEHT?
Nein - das kann kein Zufall
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