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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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und Herren, nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein!
    Wir standen auf. Die weiße Petersburger Nacht neigte sich ihrem Ende zu. Nie habe ich die Stadt so wunderbar erlebt: silbernes, breites Wasser, kobaltblauer Himmel und dazwischen eine durch die ersten Strahlen der noch unsichtbaren Sonne erglühte Haut aus goldenen Türmen, Spitzen und Zwiebelkuppeln.
    Die bewaffneten Angreifer erwiesen sich als Demokraten, die uns irrtümlich für Putschisten gehalten hatten. Glücklich und laut wie eine Schulklasse beim Ausflug, stiegen wir wieder zurück in den Bus, der, an den Straßenbiegungen quietschend, zum Isaak-Platz sauste. Wir haben dort weder Panzer noch Barrikaden gesehen. Dafür aber trafen wir mehrere Freunde, und diese groteske Karnevalnacht entlud sich in einer riesigen Party in einem Klub auf einem alten Fabrikgelände.
    Eine Punk-Band aus Berlin, die sich zufällig in die Stadt verirrt hatte, gab ein improvisiertes Konzert. Die Irokesen und die schwarze Kleidung machten die ohnehin mageren Berliner Musiker optisch noch schmaler, so dass sie alle wie Figuren von Giacometti aussahen. Wir wackelten nach den düsteren Klängen, ohne ein Wort vom Gesang zu verstehen. Schura kletterte auf die Bühne und bemalte im Takt der wilden Musik die blanken Kehrseiten der Poster, die er irgendwo hinter den Kulissen gefunden hatte. Die riesigen Propagandablätter der eben versinkenden Zivilisation riefen zu Heimatliebe, Einhaltung der alltäglichen Hygiene, Enthaltsamkeit, Fleiß und Produktivitätssteigerung auf. Immer wieder drehte Schura die Plakate um, und der Kontrast zwischen den wilden Pinselstrichen und den vorbildlich akkuraten Proletariern amüsierte das Publikum sehr.
    Schura war in unserer Clique beliebt. Er war einer der besten Studenten, er war ein Cineast, las viel, war sehr musikalisch und wurde von uns als begabter Maler bewundert. Er hat aber nie einen ernsten Versuch unternommen, seine Talente zu entwickeln oder in eine konkrete Tat umzuwandeln, als ob er seine Kräfte für ein anderes, jenseitiges Leben schonen würde. Jenseitig hieß bei uns westlich. Wir alle liebten den Westen grenzenlos, restlos, in Bausch und Bogen.
    In meinem Diplom stand:
Philologin. Englisch-Lehrerin
. In die Schule arbeiten zu gehen, hätte aber geheißen, sich öffentlich zum Versager zu erklären. Meine Arbeit bei der wohltätigen amerikanischen Organisation
Care
dagegen galt als sehr schick, allein das Wort
amerikanisch
klang schon umwerfend. Tatsächlich aber war es eine prosaische und anstrengende Tätigkeit. Wir mussten schauen, dass die grauen Kartons mit den
humanitären Gütern
wie Öl, Mehl und Zucker vorschriftsmäßig unter den Bewohnern der fiebernden Metropole verteilt wurden. Durch die trostlosen und unendlichen Hinterhof-Fluchten zogen sich Menschenschlangen, misstrauisch und leicht erregbar.
    Um die Ankunft der
Care
-Ladung beim Kommunalen Dienst zu melden, gingen wir durch die Menge, die sich vor uns, wie vor Himmelsboten, ehrfürchtig teilte. Ich muss gestehen, ich habe meine peinliche Rolle genossen. Mir schmeichelten die unterwürfigen Blicke der Menschen, die vielleicht noch gestern als Lehrer, Fahrer oder Ärzte über mein Schicksal walten durften. Und jetzt war ich plötzlich drei Köpfe größer als sie, die ihr tägliches Brot aus meiner Hand aßen.
    Auch Schura warf sein Diplom in die hinterste Ecke einer Schublade und wurde zum Abenteuer-Kapitalisten. Im ersten Sommer nach dem Uniabschluss schwärmte der
Philologe und Französisch-Lehrer
von Flaschenetiketten, die er in einer staatlichen Druckerei schwarz drucken lassen wollte, um sie dann an private Untergrund-Brennereien weiterzuverkaufen. Ein sechshundertprozentiger Profit schien sicher. Energisch verschaffte sich Schura im kriminellen Milieu 3000 Dollar zu drakonischen Zinsen. Den Geldstapel drückte er seinem Geschäftspartner einfach in die Hand, und dieser verschwand mit seinem Leinensack durch ein Loch in der Ziegelmauer der Druckerei. Den Mann mit dem Sack, der zufällig auch der Erfinder des Projekts gewesen war, sah Schura nie wieder.
    Das nächste Geschäft scheiterte ebenso kläglich, das dritte auch, was unseren Optimismus nicht erschütterte. Wir setzten unsere Tochter in die Welt und sahen wie eine vorbildliche junge Familie aus. Doch die Schuldenberge überschatteten unser Dasein immer mehr. Wir zogen immer weiter an die Stadtperipherie, Schura schlief immer seltener zu Hause, und ich hatte Angst, ans Telefon zu gehen. Nach der Geburt unserer

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