Berlin liegt im Osten (German Edition)
Tochter kehrte ich nicht mehr zu meiner Arbeit zurück: Erstens hoffte ich immer noch, dass wir eines Tages mit Schuras Geld reich werden, und zweitens kam mir meine Arbeit immer sinnloser vor. Die Sankt Petersburger Wohnungen schienen mir schon zum Bersten mit Mehlpaketen voll zu sein. Die Menschen kämpften in den Schlangen immer weiter um Mehl und Öl, obwohl beides besonders nach den Putschen in immer größeren Mengen aus dem Ausland eintraf. Es war offensichtlich, dass es sich hier nicht mehr um die Linderung von Hunger handelt, sondern um eine Art von Psychose, der wir alle verfallen waren, so wie es eben Bürgern einer untergehenden Zivilisation ziemt.
Ich saß nun in der fünften Etage eines Plattenbaus am Rande der Stadt, rauchte und schaute aus dem Fenster. Die riesigen Kletten-Blätter schossen in die Höhe und in die Breite und machten die von Menschenfüßen gebahnten Pfade zwischen den Häusern fast unsichtbar. Als ob sich die Natur das Terrain der kränkelnden Metropole wieder erobern wollte. Lustlos ging ich mit der kleinen Marina aus, saß wie eine Wärterin am Rande des Sandkastens und rauchte vor mich hin. Durch den Sand schossen schmale grüne Grashalme, wie an Meeresküsten, die an einen schattigen Wald grenzen. Die feuchten Holzränder des Sandkastens waren von kleinen warzenähnlichen Pilzen bewachsen. Nicht anfassen, sie sind giftig!, schrie ich zu Marina hinüber. – Und pass auf die Schaukel auf!
Ich redete wenig mit meiner Tochter, das tat Schuras Mutter dafür umso lieber. Sie wohnte in der Nähe. Abends erzählte mir Marina die Märchen, die sie aus dem Kindergarten brachte oder von Oma gehört hatte. Ich habe mit ihr nie gebastelt, kaum gespielt – sie war einfach da und ich auch. Meine Erinnerungen an diese trüben Zeiten Mitte der Neunziger sind vage. Ich entsinne mich lediglich des Dickichts mit einem schwindenden Pfad zum kleinen Kiosk, der prallvoll war mit exotischen Leckereien, die uns unser zeitenthobenes Dasein schmückten.
Snickers
- und
Bounty
-Riegel waren unsere Lieblinge. Heute kann ich sie nicht mehr sehen, wie die Liebesbriefe eines einst vergötterten Schwindlers.
Eines Tages erschien Schura nach langer Abwesenheit mitten in der Nacht und stürzte zum Kühlschrank.
Ich bin seit Tagen auf den Beinen, und zu Hause gibt es nichts zwischen die Kiemen!
Ich wusste nicht, wann du kommst. Ich dachte, du kommst vielleicht gar nicht mehr …
Und der Gedanke hat dich gefreut! – Schura trat den Hocker, auf dem ich saß, mit dem Fuß. – Geh wenigstens zu den Nachbarn und leih ein paar Eier für ein Omelett oder so aus.
Nein, sagte ich.
Ich war die ganze Woche auf den Beinen, ich musste mein Leben riskieren!, schrie Schura und lief in der engen Küche hin und her. – Ich musste vor der polnischen Grenze aus dem Zug springen und mit einem Polizeischäferhund kämpfen! Stell dir vor! Mit bloßen Händen und Zähnen! Und du sitzt hier den ganzen Tag und rauchst! Sag nicht, dass du das Kind betreust! Sag das mal nicht! Denn selbst das macht meine Mutter!!! – Seine Faust landete auf dem Tisch, klagend klirrten die Tassen und kugelten auf den Boden. Keine einzige aber ist zerbrochen. Ich widersprach Schura nicht. Ich saß tatsächlich nur herum und schaute aus dem Fenster. Die Antriebslosigkeit, die mich nach dem Perestroikapartymarathon erfasste, glich einem chronischen Kater.
3
Freiheit. Fisch, du bist frei! Aber wie? Wir hatten gelernt, im kleinen Becken zu schwimmen, nun war der Stöpsel raus, der Wasserpegel sank unabwendbar. Nun wälzten wir uns wie flinke junge Fische im Trockenen, hüpften unbeholfen in die Höhe und plumpsten gleich wieder zurück.
Die Fabriken blieben stehen, eine riesige Tsunamiwelle bunter ausländischer Waren fiel über das Land her. In den
Sowjetpresse
-Kiosken wurden bunte Spirituosen feilgeboten, im Buchladen an der U-Bahn nistete sich ein Sex-Laden ein. Im vergitterten Fenster tummelten sich nun regenwurmfarbene Gummipenisse. Einmal sah ich, wie eine alte Frau vor dem Fenster stehen blieb. Komm, Oma!, zog ihre Enkelin sie fort. – Es sind Mikrophone, spezielle, mit Batterien, für Sänger. Komm!, sagte die Zehnjährige und schaute mich verschmitzt an. Ihr verächtliches Seufzen galt der Dummheit ihrer Oma.
Die Symptome der Vergiftung fielen nach der Wende ganz unterschiedlich aus: Ich fühlte mich wie gelähmt, Schura dagegen war eindeutig hyperaktiv. Wie ein eingesperrtes Raubtier tappte er in der Küchenzelle herum und
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