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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Mal frage ich Vater nach der Bedeutung dieser Pfeile, von denen ich auch in den Außenbezirken einige gesehen habe, meist an alten, heruntergekommenen Häusern. Er aber reagiert fast aufgebracht, als wäre ich ihm zu nahe getreten. Er will nichts hören, will sich nicht erinnern können. Dann fährt er auf, das ginge mich auch nichts an. So verbissen in seiner Ablehnung habe ich ihn selten gesehen.
    „Nicht einmal mit mir redet er darüber“, sagt Klara, „nach so vielen Jahren.“ Ihre Augen scheinen mir heller als letztes Mal, das Wasserblau der Iris beginnt mehr und mehr in ein verwischtes Azurblau überzugehen, das ausgebleichte Blau des Sommerhimmels über Berlin. Vielleicht ist es das Alter, das auch diese Farben verblassen lässt, vielleicht aber auch nur die Reflexion des Lichts hier auf der Terrasse hoch über der Straße.
    „Vielleicht weiß er tatsächlich nichts mehr, kann sich nicht mehr erinnern, beim besten Willen nicht“, sagt Klara. „Vielleicht hat er auch alles ins Vergessen geschoben, wie so viele von uns. Ich war ja nicht viel besser. Ich habe Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass die Angst sich immer fester krallt, je länger man schweigt. Sie ist immer da, man übertüncht sie vielleicht für einige Zeit, aber man kann nie wissen, wann sie wieder hervorkommt und einen packt, hinterrücks. Es ist, als würde dich einer von hinten umklammern, dir ein Kissen aufs Gesicht drücken, dich ersticken.“
    Vater sieht demonstrativ weg, er starrt ungeniert auf das junge Paar zwei Tische von uns entfernt, das sich schmatzend küsst, so als wäre es allein im Lokal. Klara legt ihre Hand auf Vaters Unterarm und dreht sich zu mir.
    „Es war dieser Luftschutzkeller im Nachbarhaus“, sagt sie und beugt sich nach vorne, senkt ihre Stimme, sieht mir in die Augen. „Ich war mit meiner Schwester heruntergerannt, als es Alarm gab. Es war der dritte Alarm an diesem Tag, der Deutschlandsender hatte nicht einmal sein Programm unterbrochen, aber die Sirenen heulten. Draußen war es schon stockfinster, wir hatten unsere Habseligkeiten zusammengerafft, alles, von dem man glaubt, dass es nicht in Schutt und Asche versinken soll, aber dann waren wir doch nur mit den Decken unterm Arm losgerannt. Ein Blick auf den bedeckten Himmel sagte mir, dass perfektes Fliegerwetter herrschte, Maria riss mich die Treppe hinunter, weil es hinter uns gleich hell werden würde, taghell. Kaum saßen wir im Schutzraum“, sagte Klara, „hörten wir schon die Flak loslegen.“
    Es sprudelt nur so aus ihr heraus, und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich Vaters Rücken versteift, wie er innehält in seiner Drehbewegung zum Lokal hin, zum schmatzenden Nachbartisch, so, als würde er plötzlich zuhören; als versuchte er zu verstehen, aus welcher Richtung die Musik kommt, diese Melodie, die ihm bekannt war.
    Klara deutete mit einer sanften Augenbewegung auf ihn und drehte dann ihren Kopf nach oben. Mir war nicht ganz klar, was sie mir damit sagen wollte.
    „Ich hatte mich in die Ecke gesetzt, wo wir immer saßen, meine Schwester und ich, unter diesem meterdicken Stützbalken, der so etwas wie Sicherheit versprach. Ich kannte es schon, dieses monotone Brummen, das immer näher kam, das immer lauter wurde. Mittlerweile wusste ich im Voraus, was kommen würde in ein paar Sekunden. Das Heulen der fallenden Bomben, das anschwillt, immer lauter wird und schließlich alles übertönt. Und der Kellerraum, in dem wir sitzen, füllt sich mit diesem Heulen und die Zeit dehnt sich endlos, bis die Bombe detoniert. Es ist wie eine Erlösung, wenn ich die Detonation höre, weil ich dann weiß, dass ich noch lebe. Ich klammere mich an meine Schwester, die zittert wie Espenlaub. Oder ist es der Boden unter uns, die Fundamente des Hauses, die erzittern von der Wucht der Explosion, ich konnte das nicht mehr unterscheiden …“
    Vater hatte sich in einer langsamen Bewegung wieder zu uns gedreht und starrte mit offenem Mund auf Klara. Seine Finger zerbröselten das Brot, das vor ihm auf dem Teller lag, er zerrieb es zwischen seinen Fingerkuppen, und ich wartete darauf, dass er Klara unterbrechen würde, ihr den Mund verbieten oder aufspringen würde, wie ich es von ihm kannte. Aber nichts dergleichen geschah.
    Klara schien bemerkt zu haben, dass Vater aufmerksam geworden war, und auf einmal war es, als würde sie nicht mehr zu mir sprechen, sondern zu ihm.
    „Ich habe ihn zuerst gar nicht gesehen“, sagt sie und blickt an mir vorbei, „in dieser

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