Berndorf 07 - Trotzkis Narr
darum, dass gerade Sie« – er deutet mit dem Zeigefinger auf Brutus Finklin – »sich nicht kleinmachen.« Er macht eine kurze Pause. »Dass nichts wegretuschiert wird.«
Finklin stutzt. Dann hält er den Kopf ein wenig schief und äugt zu Berndorf. »Das haben Sie aber gerade sehr hoch gehängt, mein Lieber!« Er überlegt eine Weile, den Kopf gesenkt. Schließlich hebt er wortlos die Schultern und lässt sie wieder fallen. Dann steht er auf, dreht sich um und zieht aus dem Bücherregal ein antiquarisches Bändchen hervor, es ist eine Monographie, Der 18. Brumaire des Louis Napoleon von Karl Marx, und reicht es Dingeldey. Der schlägt es auf und liest auf dem Titelblatt die handschriftliche Widmung: Dem Freund und Genossen Brutus Finklin! Darunter die Unterschrift: Giselher Marcks . Dingeldey will weiterblättern, dann bemerkt er, dass auf dem Schmutzblatt etwas eingetragen sein muss, er blättert zurück und entdeckt eine Strichliste, jeweils vier senkrechte Striche und ein Querstrich, Dingeldey zählt nach und kommt auf 137 Striche.
»In welcher Zeit?«
»In den letzten dreieinhalb Jahren. Man muss ja leben. Das Hundefutter! Und die Maria braucht ja auch ein bisschen Taschengeld.«
Dingeldey rechnet nach. »Wenn ich Fünfhundert für jedes Gutachten veranschlage, sind das keine Zwanzigtausend pro Jahr. Üppig ist das nicht.«
»Nein«, bestätigt Finklin, »üppig ist das wirklich nicht. Manchmal – selten – war es ein Tausender. Aber wir sollten nicht von Gutachten sprechen. Ich habe meine Arbeit nie so verstanden.«
»Wie dann?«
»Ich habe zu bestimmten Themen Material und Texte zusammengestellt, die für den Autor eines Aufsatzes oder einer Untersuchung hilfreich sein sollten. Das heißt, ich bin oder war so etwas wie ein Zuarbeiter …« Wieder einmal greift Finklin zu Tabaksbeutel und Zigarettenpapier.
»Ich verstehe«, sagt Dingeldey, »und wenn das Material so gefällig zusammengestellt war, dass man nur noch seinen Namen draufsetzen musste, dann hat Sie das auch nicht weiter betrübt. Aber wie ist das im Einzelnen abgelaufen? Immer über Ihren Freund Giselher?«
»Es lief über Giselher, ja.« Finklin stellt fest, dass er kein Zigarettenpapier mehr hat, flucht kurz und holt eine abgekaute stinkige Tabakspfeife aus seiner Schreibtischschublade. »Ja doch. In seiner Sauna-Runde hat alles begonnen. Da hat Giselher die Leute zusammengebracht – also diejenigen, die ein Projekt durchbringen wollten, mit denen, die es zu genehmigen hatten. Oder mit denen, auf deren Empfehlung es letztlich ankam. Die Sauna, so hat er einmal gesagt, sei dafür sehr geeignet: ein nackter Mann kann einem anderen nackten Mann schlecht in die Tasche greifen. Die Sauna schafft also einen vorgegebenen Rahmen von – nun ja: von Ehrlichkeit. Wenn die Nackten sich dann einig geworden waren, kam es nur noch darauf an, wie die Transaktion abgewickelt wird.« Er hat sich die Pfeife mit dem Zigarettenschnitt gestopft und zündet sie an.
»Helmut Kohls selige Zeiten, als man einander mit den vollen Geldkoffern nachlief, sind vorbei«, fährt er fort und stößt befriedigt eine giftblaue Wolke aus. »Geld ist sein Geld nur noch wert, wenn man es vor dem Finanzamt deklarieren kann. Die Baufirma X kann nicht mehr so ohne weiteres Hunderttausend bereitstellen, um sie dem Baurat Y vom Stadtplanungsamt in der Plastiktüte zu überreichen. Das geht nicht mehr. Wie geht es also? Zum Glück kann heute nichts mehr einfach so beantragt und dann genehmigt werden. Wenn Sie ein neues Baugebiet ausweisen wollen, wenn Sie eine neue Straßentrasse planen, wenn Sie irgendwo den Denkmalschutz aushebeln wollen – zu allem brauchen Sie Expertisen, begleitende Untersuchungen, Gutachten, entsetzlich viel Papier, das zwar kein Mensch liest, das man aber jederzeit vorlegen können muss …«
»Und so erteilt die Firma X der Nichte von Baurat Y oder seiner Beischläferin oder seiner Oma den Auftrag, ihr – also der Firma X – ein Gutachten über was auch immer zu erstellen, Giselher Marcks sagt hier in Crammenow Bescheid, Sie liefern vierzig oder sechzig oder hundert Seiten, Marcks setzt den Namen von Nichte oder Beischläferin oder Oma über den Text, schickt das Ganze in die Druckerei, die Firma überweist das Honorar und hat schwarz auf weiß, was sie getrost zu den Unterlagen nehmen kann«, fasst Dingeldey zusammen. »Na schön. Dann versuchen wir doch mal, das im Einzelnen aufzulisten …«
Berndorf steht auf. »Ihr werdet wohl noch länger
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