Berndorf 07 - Trotzkis Narr
Mauerkante.«
Lüdicke wirft wieder einen dieser Blicke zum Himmel, dann trinkt man Kaffee – Lüdicke nimmt dazu Milch und Süßstoff –, Berndorf lobt den Kaffee, wie es sich gehört, aber die Ehefrau hat da schon wieder das Arbeitszimmer verlassen.
»Also«, fährt Lüdicke schließlich fort, »damit meine gestrenge Ehefrau mich nicht wieder schimpft, kommen wir zum Baugeschäft Hintze! Das war einmal einer dieser Betriebe wie aus dem Bilderbuch. Ein junges Ehepaar, er Maurermeister, sie Buchhalterin, man will auf eigenen Füßen stehen. Man arbeitet hart und sorgfältig, kalkuliert genau, hält Termine ein, Aufträge sind auch genug da, Geld ebenso, Deutschland stemmt den Aufbau Ost, das wäre doch gelacht … Das Baugeschäft Hintze ist plötzlich gar keine so kleine Klitsche mehr, zwei Azubis, neben dem Chef gibt’s auch einen Polier, man hat einen Ruf, man bewirbt sich auch für größere Projekte hier in Berlin, für den Neubau des Kindergartens da und die Schulturnhalle dort … und was passiert?«
Berndorf weiß, was sein Gesprächspartner erwartet: dass er keine Ahnung hat.
»Das propere, tüchtige kleine Baugeschäft Hintze kam nicht zum Zuge«, gibt Lüdicke triumphierend die Antwort auf die eigene Frage. »Bei keinem einzigen Bauprojekt der öffentlichen Hand. Die Hintzes gingen bei ihren Kostenvoranschlägen an die alleräußerste Schmerzgrenze – es half alles nichts, mit schöner Regelmäßigkeit wurden die Aufträge an die Konkurrenz vergeben. Auch, als es um den Neubau einer Grundschule ging. Aber da riss der Ehefrau Hintze der Geduldsfaden, das war überhaupt eine resolute, eine kämpferische Frau, sie schaltete einen Anwalt ein und zog vor das Verwaltungsgericht, um die Vergabe und das angeblich billigste Angebot nachprüfen zu lassen, das den Zuschlag erhalten hatte. Und was geschah?«
Berndorf hat keine Lust mehr, das ahnungslose Kind zu spielen. »Das Land Berlin ließ neu ausschreiben«, antwortet er, »und diesmal bekamen die Hintzes den Zuschlag.«
Lüdicke nickt säuerlich. »Das heißt, es lief ohne neue Ausschreibung. Man begnügte sich mit der dürren Mitteilung, eine Überprüfung der Angebote habe ergeben, dass der Auftrag in der Tat an Hintze zu vergeben sei. Ein Happy End, nicht wahr?«
»Kaum«, sagt Berndorf.
»Überhaupt nicht«, korrigiert Lüdicke. »Die Grundschule wurde gebaut, aber der Neubau wurde nicht abgenommen. Erst hieß es, für die Fundamente sei minderwertiger Beton verwendet worden. Die Hintzes legten ein bautechnisches Gutachten vor. Ergebnis: Die Mängelrüge entbehrte jeder Grundlage. Zahlte das Land daraufhin? Nein, denn die Bauaufsicht wollte entdeckt haben, dass Türöffnungen dort ausgespart seien, wo keine hingehörten. Die Hintzes legten die Pläne vor. Ergebnis: Der Bauaufsicht sei ein Irrtum unterlaufen. Zahlte das Land jetzt? Nein …«
»Und was war mit der Mauerkante?«
Lüdicke runzelt die Stirn. Offenkundig liebt er es nicht, unterbrochen zu werden. »Die kam später zur Sprache … Ich sagte Ihnen ja, die Hintzes hatten einen kleinen, soliden, seriösen Betrieb. Das ist gut und schön, nur erwirtschaften Sie in dieser Branche auf seriöse Weise keine Reichtümer. Auch keine großen Rücklagen. Kurz und knapp, der Betrieb Hintze war unterkapitalisiert, und weil das Land Berlin den Neubau nicht abnahm und nichts zahlte, waren die Hintzes pleite, und meine Wenigkeit hatte ihre Klitsche samt diesem verdammten Neubau am Hals. Nun gut – ich sehe mir den Fall an und stelle fest, die Hintzes haben zwar alle Mängelrügen widerlegt, trotzdem ist vom Land noch immer kein Cent geflossen, also ziehe ich den Fall vor Gericht. Was höre ich dort vom Vertreter des Landes Berlin? Ja, sagt der, es gebe da ganz skandalöse Abweichungen vom Bauplan, wodurch …« – Lüdickes Stimme erhebt sich – »wodurch die ästhetische Stringenz des Bauwerks in dramatischer Weise beschädigt worden sei …« Eine schwungvolle Handbewegung unterstreicht den Satz, dann spricht er mit normaler Stimme weiter. »Wir überlegen, was damit nun wieder gemeint sein mag, fragen nach – und was kommt in der Verhandlung heraus? Die skandalöse Abweichung besteht darin, dass Hintze eine Mauerkante, die in den inneren Pausenraum hineinragte, nicht im rechten Winkel gemauert hat, sondern dort Rundsteine hochgezogen hat. Weil er nämlich die vorgesehene Kante für einen Baufehler hielt, jedenfalls in einem Pausenraum für Grundschüler …« Lüdicke nimmt seine Brille ab,
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