Berndorf 07 - Trotzkis Narr
Szene. Außerdem weiß ich überhaupt nicht, ob irgendetwas an dieser Geschichte dran ist. Carmencita oder eben Erwin Krummschmidt soll am 8. November 1992 bei der Rosa Hilfe wegen einer Übernachtungsmöglichkeit vorgesprochen haben. Stimmt diese Information, dann hat er zu diesem Zeitpunkt noch gelebt. Damit stellt sich für mich jetzt die Frage, ob die angebliche Schlägerei wirklich stattgefunden hat, und wenn ja, wann genau.«
Carius berührt mit den Fingerspitzen der linken Hand seine Schläfe und verzieht das Gesicht. »Entschuldigen Sie – mein Kopf! Vielleicht ist es auch das Alter … Was genau wollen Sie jetzt von mir wissen?«
Tamar beugt sich etwas vor und versucht, seinen Blick festzuhalten. »Wenn tatsächlich in der Zeit von Anfang November 1992 irgendwelche Obdachlose in den Neubau eingedrungen wären, dort gehaust und sich vielleicht auch geprügelt hätten, dann wäre das kaum spurlos geblieben. Vielleicht hätte es sogar Beschädigungen gegeben, Fußabdrücke im Estrich zum Beispiel, wenn der noch nicht ganz getrocknet war. Solche Beschädigungen müssten dokumentiert sein. Zumindest müsste es einen Vermerk geben, dass Unbefugte in dem Neubau waren. Dass irgendwelche Schlösser aufgebrochen wurden. Irgendetwas in dieser Art. Wenn nichts dokumentiert wurde oder jedenfalls in der Zeit nach dem 8. November nicht, dann brauche ich dieser Spur im Augenblick nicht weiter nachzugehen.«
»Und was tun Sie, wenn wir Ihnen diese Auskünfte nicht geben können?«
Mit einem knappen Lächeln erwidert Tamar den fragenden Blick ihres Gegenübers. »Weiter recherchieren. Ich werde Nachbarn befragen, ebenso Ihre damaligen Mitarbeiter. Ich soll herausfinden, wo Carmencita abgeblieben ist, und weil das mein Job ist, werde ich das auch tun.«
»Sie gefallen mir«, stellt Carius fest. »Sie gefallen mir sogar ausgesprochen gut. Ich muss wirklich überlegen, ob ich Ihnen nicht ein berufliches Angebot unterbreiten kann. Übrigens erinnere ich mich an den Fall: Carmencita war die Transe, die den Leuten nachlief und ekelhaft wurde, wenn sie sich nicht aus der Hand lesen ließen. Als sie verschwand, war damals auch die Polizei eingeschaltet, soviel ich weiß. Haben Sie mit der schon gesprochen?«
»Die Polizei hat damals sehr wenig Interesse gezeigt und kann das heute nicht zugeben«, antwortet Tamar. »Demgegenüber wäre es eine Information aus erster Hand, wenn Sie mir Auskunft geben könnten.«
Carius versucht ein Lächeln. »Sie kalkulieren mit meiner Eitelkeit, nicht wahr?« Er greift zu einem der Telefone auf seinem ausladenden Schreibtisch und ordert mit präziser Angabe die Unterlagen für den Geschäfts- und Wohnhausbau Torstraße. Er bemerkt, dass Tamars Augen an einem überdimensionalen Wandbild hängen geblieben sind, es ist kein gemaltes, sondern ein mit Bleistift gezeichnetes Bild – winzig kleine Häuserchen in unüberschaubarer Vielzahl gruppieren sich zur Sinfonie der großen Stadt Berlin. »Das zu betrachten ist eine Übung in Demut«, sagt Carius, »jedenfalls für einen Architekten – Sie haben Zweifel?«
Tamar wird einer Antwort enthoben, denn ein junger Mann erscheint und schiebt einen Teewagen mit mehreren Aktenordnern herein. Carius blickt unwillig, hat dann aber mit einem Griff den offenbar richtigen Ordner gefunden, schlägt ihn auf und muss eine Weile suchen. Tamar bewundert derweil die Sorgfalt, mit der Carius’ schütteres Haar dazu gebracht wurde, dessen leicht rosa schimmernden Schädel halbwegs zu bedecken. Wieso ist der Schädel rosa, wenn der Mann braun gebrannt ist? Klar – Sonnencreme will er sich nicht ins Haar schmieren, also hat er sich einen Sonnenbrand eingefangen. Irgendwo in der Ägäis oder im Berner Oberland.
»Hier hab ich es«, sagt Carius und wirft ihr einen bedeutungsschweren Blick zu. »Zum Glück ist es nicht so zugegangen, wie Sie das vermutet haben. Jedenfalls keine Saalschlachten und keine Kämpfe um jedes Stockwerk wie in Stalingrad … Aber in einem Punkt haben Sie Recht. Entweder wussten Sie schon mehr, als Sie mir sagten, oder Sie sind ein ahnungsvoller Engel. Unter dem Datum vom 6. November vermerkt der Chef der Firma, die damit beauftragt war, der Estrich im Erdgeschoss hätte wegen Trittspuren neu ausgegossen werden müssen. In Klammern fügt er hinzu: Einbrecher, und das mit Ausrufezeichen. Außerdem hat er am rückwärtigen Eingang neue Türschlösser anbringen lassen. Irgendwas war also, und ich nehme an, dass ich damals mit dem Wach- und
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