Berndorf, Jacques (Hrsg)
Kotzbrocken!«
Praktisch jeder im Ort hatte einen Grund, den Mann zu hassen. Ein echtes Arschloch, dachte Gillessen. Er blätterte wieder in den Anzeigen. Knöllchen-Jupp hatte die Bäckerin Karla Knieps angezeigt, weil sie die Tische vor ihrer Bäckerei zu weit in die Fußgängerzone hineingestellt hatte. Fünfzig Euro.
Der Automechaniker Paul Kröger war mehrmals fünfzehn Euro losgeworden, weil er eine Zigarettenkippe auf die Straße geworfen hatte. Den Wirt des einzigen Gasthofes im Ort hatte Wagner angezeigt, weil sein Bierglas einige Millimeter weniger Bier enthielt als vorgesehen. Maria Heckermann, eine der beiden Unfallzeuginnen, musste fünfzehn Euro bezahlen, weil sie die Enten im Dorfteich mit trockenem Brot gefüttert hatte. Sogar den praktischen Arzt hatte der Mann verklagt. Angeblich hatte eine von ihm verordnete Arznei bei Wagner einen allergischen Schock ausgelöst. Der Arzt war freigesprochen worden.
Gillessen lehnte sich zurück und dachte nach. Dann ordnete er die Fotos von der Unfallstelle, von der Obduktion und von den verschiedenen in dem Toten gefundenen Gegenständen nebeneinander auf seinem Schreibtisch an. Aus dem Aktenordner entnahm er die erste Anzeige: Falschparken. Er schob sie unter das Foto des Unfallwagens. Die zweite Anzeige: Umweltverschmutzung. Sie wanderte unter die Zigarettenkippe. Enten füttern. Unter das Brötchen, nicht mehr ganz frisch. Dort landete auch die Anzeige gegen die Bäckerin. Der freigesprochene Arzt fand zu der Einstichstelle, der Wirt zum Promillewert im Blut. Nach drei Stunden hatte Gillessen einen großen Teil der Anzeigen zugeordnet, und die Stapel unter den Fotos waren beträchtlich.
Ich habe es hier mit einem Mordfall mit etwa zweihundert Tatverdächtigen zu tun, dachte er und atmete tief durch. Und ich werde sie alle vernehmen müssen. Jeden einzelnen.
Er begann mit den beiden Unfallzeuginnen.
»Das bedauert keiner, dass der tot ist«, beschied ihn die Bäckerin auf seine Frage. »Wir haben den alle gehasst. Wenn ich den nur gesehen hab, wie er an der Ecke stand, da vorne«, sie deutete auf die Straßenecke neben ihrem Laden, »mit seinem lächerlichen Kommunionsanzug und dem Blöckchen in der Hand, dann hätte ich ihn am liebsten überfahren. Hat immer nur die Brötchen vom Vortag gekauft, der knickrige Sack, und zeigt mich an, weil die Stühle zu weit draußen stehen. Er hat nie mal ’nen Kaffee oder sowas hier getrunken. Immer nur stänkern und lauern, das war sein Leben. Wenn Sie mich fragen, der Mann hatte kein Herz. Und in den Himmel kommt der auch nicht, jedenfalls nicht, wenn es eine Gerechtigkeit gibt.« Inzwischen war sie puterrot vor Aufregung, und Gillessen nötigte sie, sich zu setzen. Vorsichtig, um sie nicht noch mehr aufzuregen, kam er auf den Abend vor dem Unfall zu sprechen.
»Glauben Sie etwa, ich hätte den umgebracht? Wissen Sie was? Ich wär sogar stolz drauf, wenn ich’s getan hätte. Der hat nichts anderes verdient, glauben Sie mir. Und Sie werden von keinem was anderes hören.«
Gillessen wagte kaum, noch einmal nach ihrem Alibi zu fragen, doch offenbar hatte Karla inzwischen genug Dampf abgelassen und antwortete ganz manierlich.
Den Abend vor dem Unfall habe sie mit ihrer Freundin Maria verbracht. Der sei es nicht so gut gegangen, und deshalb habe Karla den Arzt angerufen, der dann gekommen sei und sich um Maria gekümmert habe. So bis gegen eins etwa.
»Und am nächsten Morgen ging es Maria schon wieder so gut, dass sie spazieren gehen konnte?« hakte Gillessen nach.
»Ja, die frische Luft hat ihr sogar gut getan«, bestätigte Karla.
Maria wiederholte Karlas Aussage fast wörtlich. »Stellen Sie sich das nur vor. Da zeigt der mich an, weil ich die Enten füttere! Hat man so was schon gehört? Ich wusste ja nicht mal, dass das verboten ist. Übrigens total idiotisch, so was zu verbieten, finden Sie nicht auch? Aber der Jupp, der hat das natürlich gewusst. Ein schlechter Mensch, durch und durch.« Im Stillen gab Gillessen ihr Recht. Natürlich war es idiotisch, das Füttern von Enten zu verbieten. Wer kam nur auf solche Ideen? Und auch damit, dass Jupp Wagner ein schlechter Mensch gewesen war, stimmte er inzwischen voll und ganz überein.
Dr. Ernst Schimanskis Praxis lag nicht weit von der Kirche entfernt nahe am Ortszentrum. Während Gillessen darauf wartete, ins Sprechzimmer vorgelassen zu werden, dachte er daran, dass Dr. Schimanskis Fall als einziger einen Aktenordner für sich allein beanspruchte. Josef Wagner
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