Bernhard Gunther 03 - Alte Freunde neue Feinde
an. Wie ich vermutet hatte, entfuhr der
Leiche bei einem stärkeren Druck ein Furz, der auf ein Plat zen der inneren Organe durch Gas hinwies. Wie es schien, waren die beiden seit mindestens einer Woche tot.
Ich zog die Bettdecke wieder über die Leichen und kehrte in das Vorderzimmer zurück. Eine Weile starrte ich hilflos auf die Bücher und Papiere auf dem Tisch und machte sogar einen planlosen Versuch, die eine oder andere Spur zu fin den. Weil ich jedoch bis jetzt nur die verschwommenste Vor stellung von dem Puzzle hatte, gab ich die Suche bald als Zeitverschwendung auf. Draußen, unter einem grauen Him mel, als ich die Straße zur S-Bahn einschlug, fiel mir etwas ins Auge. In Berlin lagen immer noch so viele weggeworfene militärische Ausrüstungsstücke herum, daß ich dem Gegen stand wohl kaum Beachtung geschenkt hätte, wären die Um stände des Todes der Drexlers nicht so sonderbar gewesen. Auf einem Haufen Abfall, der sich im Rinnstein gesammelt hatte, lag eine Gasmaske. Eine leere Blechdose rollte mir vor die Füße, als ich am Riemen der Gasmaske zog. Im nächsten Augenblick stand mir der Ablauf des Mordes farbig vor Augen, und ich ließ die Gasmaske los und hockte mich hin, um das Etikett auf der verrosteten Metallwölbung der Dose zu lesen.
«Zyklon-B. Giftgas! Gefährlich! Kühl und trocken aufbe wahren. Von Sonnenlicht und offenem Feuer fernhalten. Mit höchster Vorsicht öffnen und anwenden. Kaliwerke A. G. Kolin.»
Vor meinem geistigen Auge malte ich mir einen Mann aus, der vor der Wohnungs tür der Drexlers stand. Es war spät in der Nacht. Nervös rauchte er zwei Zigaretten zur Hälfte, be vor er die Gasmaske anlegte und die Riemen überprüfte, da mit sie dicht abschloß. Dann öffnete er die Büchse mit der kristallinen Blausäure, schüttete die Kügelchen - die beim Kontakt mit der Luft bereits schmolzen - auf das Tablett, das er mitgebracht hatte, und schob es rasch unter der Tür hin durch in die Wohnung der Drexlers. Das schlafende Ehepaar atmete tief; die Drexlers versanken in Bewußtlosigkeit, als das Zyklon-B-Gas, das man zum erstenmal in den KZs gegen Menschen einsetzte, anfing, die Sauerstoffzufuhr in ihrem Blut zu stoppen. Kaum anzunehmen, daß die Drexlers bei diesem Wetter ein Fenster hatten offenstehen lassen. Aber vielleicht hatte der Mörder etwas - eine Jacke oder eine Decke - quer vor die Tür gelegt, um auszuschließen, daß Frischluft in die Wohnung drang, oder um zu verhindern, daß jemand anderes im Gebäude getötet wurde. Selbst in der allerschwächsten Konzentration wirkt das Gas tödlich. Schließlich, nach fünfzehn oder zwanzig Minuten, als die Kügelchen sich ganz aufgelöst hatten und der Mörder über zeugt war, daß das Gas sein lautloses, tödliches Werk getan hatte - zwei weitere Juden hatten sich, aus welchem Grund auch immer, den sechs Millionen anderen zugesellt -, hatte er wahrscheinlich seine Jacke, die Gasmaske und die leere Büchse mitgenommen (vielleicht hatte er nicht vorgehabt, das Tablett zurückzulassen: nicht, daß das eine Rolle spielte, denn er hatte beim Hantieren mit dem Zyklon-B gewiß Handschuhe getragen) und war in der Nacht verschwunden.
Man konnte diese einfache Methode fast bewundern.
9
Irgendwo, weiter die Straße hinauf, brummte ein Jeep in die schneeverhangene Schwärze. Ich wischte mit meinem Ärmel die beschlagene Fensterscheibe sauber und sah die Spiege lung eines Gesichtes, das ich kannte.
«Herr Gunther», sagte er, als ich mich auf meinem Platz umdrehte. «Ich hätte nicht gedacht, daß Sie es sind.» Eine dünne Schicht Schnee lag auf dem Kopf des Mannes. Mit sei nem quadratischen Schädel und den abstehenden, vollkom men runden Ohren erinnerte er mich an einen Eiskübel.
«Neumann», sagte ich. «Ich dachte, Sie wären tot.»
Er wischte sich den Kopf ab und zog seinen Mantel aus. «Darf ich mich zu Ihnen setzen? Mein Mädchen ist noch nicht aufgetaucht.»
«Wann haben Sie jemals ein Mädchen gehabt, Neumann.
Zumindest eins, für das Sie nicht bezahlt hätten.»
Er zwinkerte nervös. «Hören Sie, wenn Sie anfangen ... » « N ur die Ruhe», sagte ich. «Setzen Sie sich.» Ich winkte dem Kellner. «Was wollen Sie trinken? »
«Nur ein Bier, danke.» Er setzte sich, kniff die Augen zu sammen und musterte mich kritisch. «Sie haben sich nicht sehr verändert, Herr Gunther. Sie sehen älter aus, ein biß chen grauer, und Sie sind viel magerer als früher, aber immer noch der alte.»
«Ich mag mir gar nicht
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