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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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Bilder, die jedes Band erzeugte, frei assoziieren und zusammenwirken.
    Am Ende konnte ich wieder daran glauben, daß mein Hiersein die Folge einer freien Entscheidung ist. Niemand hat mich zu etwas gezwungen. Ich hatte eigene Motive, mich freiwillig zu melden. Und man gab mir schließlich diese Position, weil man bei der NASA davon überzeugt war, daß gerade ich die gestellten Aufgaben besser als jeder andere mögliche Kandidat würde erfüllen können.
    Es ist ohne Bedeutung, daß meine Motive teilweise auf einer unverarbeiteten Furcht oder dem Wunsch, einer Situation zu entkommen, mit der ich nicht fertig wurde, beruhen. Das ist wirklich ohne Bedeutung. Manchmal ist Rückzug die einzige Alternative zur Zerstörung, und nur ein Wahnsinniger kann die Wahrheit dessen nicht erkennen. Nur ein Wahnsinniger … Gibt es denn einen „Normalen“ auf der Erde, der nicht insgeheim ein Flüchtling vor etwas Unerträglichem in seinem Leben ist? Und doch funktionieren sie normal.
    Wenn die dort weglaufen, dann laufen sie auch auf etwas zu und nicht einfach nur weg. Wie ich. Ich hatte den Beruf des Astrophysikers, lange bevor ich Teil dieses Projekts wurde, erkoren. Ich hätte auch Mediziner werden können, um nach einer Heilmethode für meine Krankheit zu forschen. Ich hätte mit dem Haß auf den Weltraum und auf „Astronauten“ aufwachsen können, um in meinem verdammten, häßlichen sterilen Anzug durchs Leben zu stolpern …
    Aber ich erinnere mich, daß ich im Alter von sechs Jahren zum erstenmal einen Film über Astronauten bei der Arbeit im All sah … Sie sahen aus wie ich! Und keiner lachte. Was blieb mir danach schon anderes übrig, als das All zu lieben?
    (Und wie hätte ich Jeffrey nicht lieben sollen – mit seinem nachtschwarzen Haar und der blauen Fliegerkombination mit dem Abzeichen auf der Schulter. Armer Jeffrey, armer Jeffrey, der seinen Traum vom All nie realisieren konnte, weil sie ihm mit der Kürzung des Programms den Boden unter den Füßen wegzogen …
    Aber ich werde nicht über Jeffrey sprechen. Nein, das werde ich nicht.)
    Ja, ich hätte auf der Erde bleiben können, um auf eine Heilmethode zu warten! Ich wußte schon damals, daß einmal eine gefunden werden würde. Es war sowohl einfacher als auch schwerer, den Weltraum dem Bleiben vorzuziehen.
    Was meines Erachtens dann letztendlich die Entscheidung herbeiführte, war die Tatsache, daß meine Mitarbeiter so großes Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten hatten, daran glaubten, daß ich dieses Observatorium solange ich lebe ordnungsgemäß führen würde. Milliarden von Dollars und Tausende von Tonnen ruhten auf meinen Schultern – wie bei Atlas, der die Weltkugel trägt.
    Doch selbst Atlas versuchte, sich seiner Bürde zu entledigen, denn so lebenswichtig seine Funktion auch war, die Verantwortung war eine noch viel größere Last für ihn. Aber nahm er dann nicht seine Bürde zurück, was immer auch kommen sollte …?
    Heute habe ich gearbeitet. Ich machte mich daran, den liegengebliebenen Stapel Arbeit einer ganzen Woche nachzuholen – Daten verarbeiten und Wartungen durchführen –, und ich bin immer noch nicht fertig damit. Dabei fiel mir auf, daß Ozymandias die fehlenden fünf Seiten wie die täglichen Nachrichten behandelt hat: Er hat darauf geschissen. Das entsprach genau meinen Empfindungen. Ich kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.
    Ich glaube, ich werde weiterleben.
     
    SONNTAG, DER 15.
    Die Wolken haben sich verzogen.
    Das ist nicht rhetorisch gemeint – unter den frisch verarbeiteten Daten befinden sich eine Reihe von Fotos im ultralangen Wellenbereich. Dort ist eine Lücke im Gasschleier vor mir zu erkennen, ein Durchbruch in den Wolken, der sich über dreißig oder vierzig Lichtjahre erstreckt. Vielleicht sogar fünfzig! Phantastisch. Was für eine Aussicht! Was für einen Blick ich von hier auf alles habe, besonders mit meiner extrem weitreichenden Vision: auf das, was vor mir liegt, auf das vorüberziehende Panorama – oder zurück, zur Erde.
    Zurück. Ich werde niemals damit aufhören, zurückzublicken und mir zu wünschen, alles wäre anders gekommen. Oder wenigstens, daß es zwei von mir geben könnte: eine hier und eine auf der Erde, normal und gesund, damit ich nicht dauernd zwischen zweifachem Bedauern aufgerieben werde …
    („Hallo, was liegt an, Doc? Dalli, dalli!“)
    („He, paß auf! Flieg nicht, während du trinkst.“)
    Verdammter Vogel … Wenn ich etwas ausgelassen bin, dann liegt das daran, daß ich

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