Berthold Beitz (German Edition)
Besatzer, die Herrenmenschen. Der Bruder ist Wladyslaw Gomulka, ein kommunistischer Untergrundkämpfer, der Beitz fast zwei Jahrzehnte später die Hand schütteln wird – als mächtiger KP -Chef der Volksrepublik Polen.
Die Entscheidung, die Berthold Beitz’ Leben für immer verändern wird, fällt beim Skatspiel unter Kollegen im Juni 1941. An der gesamten Grenze zu Stalins Reich haben die Deutschen angegriffen; Hitler hat am 22. Juni den Pakt der Tyrannen gebrochen. Schon stoßen die Panzer tief ins ostgalizische Erdölgebiet vor, das Ribbentrop keine zwei Jahre zuvor so gern behalten hätte. Die Ölgesellschaften wollen die Ersten vor Ort sein und stehen unter gewaltigem Druck. Die Wehrmacht erwartet von ihnen, die von den zurückweichenden Russen in Brand gesetzten Anlagen so schnell wie möglich wieder instand zu setzen, doch es mangelt an Fachleuten. Beskiden-Personalchef Schönemann, bei der Skatrunde mit von der Partie, entschließt sich in Krosno spontan, Berthold Beitz zu schicken, denn er braucht dringend einen kaufmännischen Direktor. Beitz ist zwar erst 27 Jahre alt, wirkt auf Schönemann aber durchsetzungsfähig genug, um die Leitung über die ausgedehnten Förderanlagen von Boryslaw zu übernehmen. Er legt die Karten auf den Tisch und sagt: »Sie gehen rüber.«
»Er hat alles versucht«:
Berthold und Else Beitz’ Rettungsaktionen in Boryslaw
EIN KLAVIER AUS DEUTSCHLAND
Das Klavier steht heute in Haifa, in einem großen, lichtdurchfluteten Wohnzimmer mit Blick auf die Hügel des Carmel. Es ist ein schweres Stück mit fast mannshohem Rücken, gedunkelt vom Lauf der Jahrzehnte, mit Säulenfüßen und weißen Tasten aus echtem Elfenbein. Eine deutsche Firma hat es gebaut, C. M. Schröder, Spezialist für feine Pianos.
Rund siebzig Jahre zuvor, Ende Juni 1941. Für Anna Rotenberg im ostpolnischen Ölstädtchen Boryslaw ist das Klavier der Inbegriff von Kultur und Harmonie, ein Stück Deutschland. Die 39-Jährige spricht fließend Deutsch und Russisch, sie war zur Ausbildung in Sankt Petersburg und spielte als junges Mädchen in einer Wiener Virtuosenklasse. Nun muss sie entscheiden, ob sie das Klavier zurücklassen soll – oder ob sie und ihr zwölfjähriger Sohn Jurek bleiben. Denn die Deutschen kommen.
Hektisch bereiten die russischen Besatzungstruppen den Rückzug vor. In der Ferne ist schon das Donnern der Geschütze zu hören, und aus dem Himmel stoßen wie Sendboten der Hölle die deutschen Sturzkampfbomber mit heulenden Sirenen herab auf den Bahnhof. Die Bomben zertrümmern Gleise und Züge. Zwischen den Fördertürmen jagen sowjetische Kavalleristen hindurch und werfen Brandfackeln, Rauchwolken von brennendem Öl steigen Hunderte Meter hoch in den Himmel. Die Anlagen sollen der Wehrmacht nicht unversehrt in die Hände fallen. Kolonnen von Rotarmisten hasten davon, Lastwagen werden eilig beladen; am Stadtrand haben Soldaten schon deutsche Kundschafter auf Motorrädern gesehen. Da hält ein Militärauto vor dem Haus der Rotenbergs, einer der sowjetischen Öldirektoren steigt aus und eilt hinein. Anna Rotenberg hat ihm und seinen Kindern Klavierunterricht gegeben, jeder in der Stadt kennt die berühmte Pianistin. Der Russe beschwört sie, alles stehen und liegen zu lassen und mit ihrem Sohn in den Wagen zu steigen. »Kommen Sie mit nach Russland«, sagt er, »hier sind Sie nicht sicher, bitte. Werfen Sie Ihre Sachen in einen Koffer und fahren Sie mit, schnell.«
Aber Anna Rotenberg wird es nicht tun. Die Sowjetunion ist für die gebildete, kultivierte Frau ein barbarisches Land, regiert von Stalin, dem Massenmörder. Nein, sie wird nicht gehen. Dem drängenden Direktor erklärt sie: »Machen Sie sich keine Sorgen um uns. Bald wird die Rote Armee doch zurückkommen, dann sehen wir uns wieder.« Was soll der Russe darauf sagen? Nichts spricht für die Rückkehr der sowjetischen Soldaten. Ihre rückwärtigen Einheiten fliehen in heller Auflösung ostwärts, die Wehrmacht walzt über die Front hinweg und zerschmettert den tapferen, aber heillos unorganisierten Widerstand. Der Direktor schüttelt den Kopf und geht. Zwei Tage wird es noch dauern, bis die Deutschen einrücken. Zu ihrem Nachbarn Jitzhak Linhard sagt Anna Rotenberg, die Deutschen seien doch die Nation, die Heine, Beethoven und Bach hervorgebracht habe und das schöne Schröder-Klavier: »Ich ziehe sie diesen Tataren vor.«
»EINE ZEIT GROSSER TRAURIGKEIT«:
DAS GRAUEN IN DER PANSKASTRASSE
Gleich in den ersten Tagen nach dem
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