Berthold Beitz (German Edition)
deutschen Überfall auf die Sowjetunion, dem Beginn des Unternehmens »Barbarossa«, fällt die alte Festung Przemyśl, wo die Truppen des Zaren den Österreichern im Ersten Weltkrieg fast 200 Tage Widerstand geleistet haben. Die 17. Armee der Wehrmacht besetzt bereits am 1. Juli 1941 das Erdölgebiet Galiziens. Ihr folgt der Tross derer, die das eroberte Land übernehmen sollen. Öl ist knapp im Deutschen Reich, ein schwacher Punkt der stärksten Armee der Welt, und der Treibstoff aus Boryslaw und den anderen Förderstätten soll die Maschinerie des Krieges am Laufen halten. Jedem ist klar, dass die Rotarmisten in Boryslaw angezündet haben, was sich anzünden ließ. Instandsetzung und Förderung sollen so schnell wie möglich beginnen. Während die Panzer des Feldmarschalls Gerd von Rundstedt weiter nach Osten vorstoßen, folgen aus dem westlichen Polen die technischen Experten für den Ölbetrieb mit einer Lastwagenkolonne über den San. Mit dabei sind Berthold Beitz und seine Frau Else.
Boryslaw ist das Herz des polnischen Ölgebietes, es liegt südlich von Lemberg und zehn Kilometer entfernt von der Kreisstadt Drohobycz. 1941 zählt der Ort ungefähr 40 000 Einwohner. Galizien erstreckt sich vom Süden Polens bis in das Gebiet der Ukraine und gehörte einst, bis 1918, zum osteuropäischen Imperium Österreich-Ungarns. Der Vielvölkerstaat des versunkenen Habsburger Kaiserreichs lebt hier noch fort. Der eifernde Nationalismus aber, den jenes noch mühsam zu zügeln vermochte, hat längst sein hässliches Haupt erhoben, und ob unter Polen oder Ukrainern, er geht einher mit einem tiefsitzenden Antisemitismus. Fast jeder Zweite der Bewohner Boryslaws ist Jude, die anderen sind hauptsächlich Polen und Ukrainer, daneben gibt es Deutsche, Armenier und andere kleine Minderheiten.
Die Kultur der Juden, die Welt der Shtetl, wie sie der Maler Marc Chagall in seinen Bildern verewigt hat, ist hier tief verwurzelt. Sie reicht zurück bis ins 14. Jahrhundert, als in Europa die Pest umging, »eine Zeit großer Traurigkeit«, wie die Chronisten schrieben, und die Christen die Juden für die Seuche verantwortlich machten. Einer der wenigen Zufluchtsorte vor den mörderischen Pogromen war das polnische Königreich unter Kasimir dem Großen (1333–1370). Er nahm die Flüchtlinge auf und machte sich ihre Fähigkeiten für seinen jungen Staat zunutze. Der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel schreibt über das jüdische Leben in diesen weiten Ländern des Ostens: »Sadna, d’araa had hu, heißt es im Talmud: Alle Städte kommen aus der gleichen Werkstatt. Überall die gleichen Hütten. Manche niedergeduckt, andere heiter, von Licht überströmend … Von der Außenwelt abgeschnitten, schaffen sich diese zeitlosen jüdischen Königreiche ihre eigene Welt, mit Fürsten und Troubadours, Narren und Bettlern, Dichtern und Arbeitern, Festen und Trauertagen … Und überall gibt es das gleiche Morgen. Und am Freitagabend, wenn der Schabbat anbricht, stimmt man überall dasselbe Lied an, um die Engel einzuladen, die überallhin denselben Frieden bringen.«
Die Orthodoxen sind auch in Boryslaw stark vertreten, unverkennbar in ihren schwarzen Kaftanen, mit ihren Bärten, Schläfenlocken und Ritualen. Bürgerliche Familien wie die Rotenbergs, geprägt durch die K. u. k.-Zeit, sind kulturell an Deutschland orientiert, dem Land, aus dem das Schröder-Klavier stammt. Jurek Rotenbergs Vater, ein jüdischer Offizier, der 1920 auf Seiten Marschall Pilsudskis die Unabhängigkeit Polens gegen die roten Revolutionstruppen aus Russland verteidigt hatte, war bis zu seinem frühen Tod 1934 in der Ölindustrie beschäftigt. Das gilt im Übrigen für die meisten der ansässigen Juden – von den »Lebkas«, den Tagelöhnern, die Schlacken und Schlieren aus dem Wasser holen, bis zu den Werksbesitzern. Einer der größten Unternehmer am Ort stammt aus der bekannten Familie Lockspeiser und ist der Onkel des hübschesten Mädchens in Jureks Schule. Jurek bewundert Anita Lauf sehr, mit ihrem Wiener Akzent und ihren modischen Zöpfen. Anitas Großvater, ein Jude aus Galizien, war noch Offizier der schmucken K. u. k.-Streitkräfte gewesen. Anita selbst verbringt eine behütete bürgerliche Kindheit in Wien und kehrt erst nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 mit der Familie in deren alte polnische Heimat zurück, nachdem die Hakenkreuzfahnen auf den Straßen wehten und das Kind nicht verstand, warum die Frauen in ihrer Familie
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