Berthold Beitz (German Edition)
so sehr weinten. Schön sähen die Fahnen aus, sagte sie dem Dienstmädchen Steffi, doch die meinte nur: »Bist ja deppert, Anita. Des sind ja Nazis.« Ihr Vater steigt in Boryslaw groß ins Ölgeschäft ein, wird aber 1939 mit dem Onkel von den einrückenden Sowjets als Klassenfeind sofort abgesetzt. Die Familie wohnt außerhalb der Stadt, und Anfang Juli 1941 erscheint dort am Zaun ein Wehrmachtsoldat, der höflich auf Deutsch fragt: »Entschuldigen Sie bitte, kann man hier irgendwo Milch oder frisches Wasser besorgen?« Anitas Mutter sagt abends: »Na, die Russen sind wir los. Die Deutschen sind ja doch ein Kulturvolk.«
Die Stadt, die Berthold und Else Beitz am 1. Juli 1941 erstmals sehen, ist alles andere als ein einladender Ort, und sie trägt, von ein paar hohen Verwaltungsbauten und dem Theater abgesehen, kaum Spuren alter K. u. k.-Pracht. Das Gewirr aus Hütten, kleinen Fabriken und den hohen hölzernen Fördertürmen bestimmt die Silhouette der Stadt. Und mittendrin, ohne erkennbare Ordnung, liegen die Behausungen der Einwohner und Arbeiter, niedrige, überwiegend einstöckige Häuser aus Lehm und Holz. Die Straßen sind schmutzig, es stinkt nach Öl. Der zehnjährige Jude Janek Bander, ein Freund von Anita und Jurek, spielt mit seinen Freunden oft am Rand des Flusses Tysmienica, eines trüben, von Ölschlieren bedeckten Gewässers, in dem die Jungen heimlich baden, was streng verboten ist. Nur am Rande der Stadt gibt es einige ansehnlichere Wohnhäuser mit Gärten.
Fast zwei Jahre sind die Russen in Boryslaw gewesen, im September 1939 haben sie das Ölrevier als Teil des polnischen Ostens okkupiert, wie es das Geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vorgesehen hat. Von den einen werden sie wie Befreier gefeiert, von den anderen wie das personifizierte Böse gefürchtet, und die Fronten verlaufen dabei quer durch die Nationalitäten. Viele junge Juden sind erleichtert, ja begeistert gewesen. Für sie bedeutet die Herrschaft der Kommunisten Schutz vor den Nazis, die Hoffnung auf ein Ende des Antisemitismus und des hasserfüllten Streits zwischen den Nationalitäten Polens, aber auch Befreiung aus hergebrachten Zwängen der Tradition. Janek Bander etwa ist zehn Jahre alt, als die Rote Armee die Stadt besetzt; schon bald ist er bei den jungen Pionieren, trägt stolz das rote Halstuch und singt: »Ich bin ein junger Pionier und steh stets treu zu der Partei …« Die Älteren und gewiss die Orthodoxen sehen dagegen bald, wie sich ihre Befürchtungen bewahrheiten. »Bürgerliche« Juden, Wohlhabende, Unternehmer und willkürlich Verdächtigte verlieren ihre Arbeit, nachts steht der gefürchtete Geheimdienst NKWD vor der Tür. Kurz bevor die Deutschen kommen, sind die Kerker der Tschekisten überfüllt. Auch sehr viele Polen und Ukrainer, des Nationalismus verdächtigt, befinden sich darunter, aber am Ende lernen alle Nationalitäten die dunkle Seite des Sowjetreichs kennen. Der NKWD verschleppt Janek Banders Onkel nach Sibirien, und zu Hause sagt die Mutter: »Die Russen sind doch keine Menschen.« Janeks 17-jähriger Bruder Karol dagegen will sich den roten Soldaten anschließen. Er sitzt schon im Zug nach Osten, als die verzweifelten Eltern ihn endlich aufspüren und anflehen, doch zu bleiben. Schlimmer als unter Stalin, so glauben auch sie, kann es bei den Deutschen kaum sein. »So ist das Schicksal«, sagt Janek Bander heute resigniert. Sein Bruder wird ein Jahr später, 1942, ins Vernichtungslager deportiert.
Das Ehepaar Beitz bezieht im Juli 1941 ein kleines, für hiesige Verhältnisse besseres Haus am Stadtrand. Bis dahin hat Beitz wenig vom Krieg gesehen. Wie vielen Deutschen ist ihm der Krieg anfangs als neuer Waffengang zwischen Europas Nationen erschienen, so wie es viele vorher gegeben hat, zuletzt jenen, in den der Ulanen-Wachtmeister Erdmann Beitz geritten war. Sein Sohn wird nun sehr bald erfahren, dass in diesem Krieg nichts ist wie zuvor. Es sind Szenen des Grauens, auf die ihn nichts vorbereitet hat.
Die deutsche Offensive hat die Rote Armee mit vernichtender Wucht getroffen. Dem NKWD bleibt keine Zeit, seine Gefangenen nach Osten zu schaffen. Aber es ist Zeit genug, sie nicht in die Hände der Deutschen fallen zu lassen. Die Wut der Verlierer und die von Stalin herangezüchtete menschenverachtende Mentalität in seinem Geheimdienst wachsen sich zu einer sadistischen Racheorgie in den Kerkern und Verliesen aus; Tausende Ukrainer, Polen und auch Juden werden gefoltert, verstümmelt
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