Berthold Beitz (German Edition)
des Warschauer Ghettos auf die Knie, als Zeichen der Demut und deutscher Schuld. »Ob die Geste etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht«, hat Brandt später stets erklärt. Und die Schuld ist gewiss so wenig die des Hitlergegners Brandt (der ins Exil gegangen war) wie die seines Delegationsmitglieds Berthold Beitz, der am Nachmittag neben Bahr sitzt, als die dunkle Wagenkolonne der Besucher zum Mahnmal für den so heroischen wie verzweifelten Aufstand der Warschauer Juden 1943 aufbricht. Dort herrscht Gedränge – die Delegationen, der Tross, die vielen Fernsehkameras. Aber dann scheint die Zeit für einen kurzen Moment stillzustehen: Willy Brandt fällt auf die Knie und verharrt eine halbe Minute schweigend auf den winterfeuchten Steinplatten im Gedenken an die Opfer. Beitz ist erst überrascht und denkt sich: »Na, was macht er denn jetzt?« Später sagt er nachdenklich: »Die Last, die er trägt, läßt ihn ganz demütig handeln.«
Er bewundert an Brandts Geste etwas, was ihm selbst ein hohes Gut ist: die Freiheit, den Moment zu erkennen und gegen alle Bedenken und Widerstände das zu tun, was man für richtig hält. Ein Bundeskanzler, der auf den Knien Abbitte für deutsche Schuld leistet: Brandt hat etwas getan, was daheim wütende, oft hysterische Abwehrreaktionen auslöst, im Ausland aber das Bild der Deutschen sehr nachhaltig verbessern wird.
Zu lange hatten viele Deutsche und die bisherigen Bundesregierungen so getan, als seien alle deutschen Schicksalsschläge seit 1945, als seien Vertreibung, Verlust der Ostgebiete und die Teilung des Landes alleinige Schuld des Kommunismus und Moskaus. Brandt hat diese Selbsttäuschung nirgendwo auf so wirksame Weise zerstört wie bei seinem Kniefall vor dem Denkmal der Opfer deutschen Terrors. Beitz hat diesen Terror selbst erlebt, er weiß, wie recht Brandt hat, der zur Begründung seiner Ostpolitik sagt, Deutschlands Tragödie sei »durch eigene Schuld, jedenfalls nicht ohne eigene Schuld« zustande gekommen; nun sei es Zeit, die Folgen als Realität zu begreifen. Er, Brandt, habe »nichts verspielt, was nicht längst verspielt war«, schon gar nicht die verlorenen Gebiete jenseits von Oder und Neiße. Brandt nimmt damit vorweg, was Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes sagen wird: »Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursachen für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegen vielmehr an seinem Anfang und am Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte.«
Im Palais Radziwill wird an diesem 7. Dezember 1970 der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und Polen unterzeichnet. Mit ihm beginnt eine neue Epoche im deutsch-polnischen Verhältnis.
Beitz bleibt nach Brandts Abreise noch eine Weile in Polen, besucht Freunde und Gesprächspartner; unter anderem fährt er mit dem polnischen Handelsrat Lachowski nach Jaslo, seinem ersten Einsatzort von 1939 in der Nähe von Boryslaw.
Beitz bleibt ein bekennender Anhänger der Entspannungspolitik. Er wirbt für sie beim sowjetischen Ministerpräsidenten Kossygin, als er 1971 als Leiter einer bundesdeutschen Wirtschaftsdelegation nach Moskau fliegt. Eigentlich geht es dabei um den Aufbau von Fachkommissionen für den Handel, aber Kossygin sagt den Industriellen, unter ihnen auch Max Grundig: »Wir sind überzeugt, daß die Politik von Kanzler Brandt eine mutige Politik ist, die den Interessen unserer Zeit entspricht.« Beitz tritt auch 1972 für diese Politik ein, als CDU -Oppositionschef Rainer Barzel sein konstruktives Misstrauensvotum zum Sturz des Kanzlers vorbereitet. Zusammen mit weiteren Prominenten stellt er sich im Wahlkampf mit großen Zeitungsannoncen hinter die Ostpolitik der Koalition: »Wir unterstützen Berlin und die Ostverträge – tunSie’s auch!« Weiter heißt es darin: »Eine Ablehnung der Verträge würde die Bundesrepublik in die internationale Isolierung treiben, und zwar nicht nur bei ihren westlichen Freunden. Sondern auch in Osteuropa, wo die zur Verständigung und Zusammenarbeit ausgestreckte Hand ausgeschlagen und unser Friedenswille unglaubhaft würde. Zudem würden in Osteuropa alle jene Kräfte Auftrieb erhalten, die gegen Entspannung sind.« Zu den Unterzeichnern des Aufrufs zählen angesehene Historiker wie Karl Dietrich Bracher, Hans Mommsen und Golo Mann, Verleger wie Gerd Bucerius, der Publizist Eugen Kogon sowie Wolf Graf von Baudissin, der geistige Vater der Bundeswehr, und drei Manager: Beitz,
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